„Mein Kind ist ertrunken, obwohl ich nur einen Meter neben ihm stand“

„Unser kleiner Judah Levi war ein lebhafter, glücklicher, quicklebendiger Junge, der Abenteuer liebte.

Er war ein blauäugiger, blonder Wirbelwind, und an allem interessiert – seine Liebe zum Leben war richtig ansteckend. Man konnte gar nicht anders, als zu lächeln, wenn er in der Nähe war. Er war so ein freundliches, liebevolles kleines Kerlchen, der immer den Namen von jedem wissen wollte. Judah liebte Zebras, Elefanten, Paw Patrol, Schokolade –  und er liebte es, Zeit mit Mama, Papa und seinen sechs Geschwistern zu verbringen.

Er war ein absolutes Wasser-Baby. Judah hätte den ganzen Tag im Wasser gespielt, wenn ich ihn gelassen hätte. Weil wir das wussten, bekam er schon früh Schwimmunterricht. Dabei, sagte man uns, lerne er, wie er sich selbst retten könnte, falls er das jemals müsste. Wir übten diese Techniken regelmäßig mit ihm. Und dachten, wir tun alles, dass ihm nichts passieren könnte, vor allem in der Nähe von Wasser.

Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass es trotz allem nicht genug war, um unseren Jungen zu beschützen.

Der schlimmste Tag in unserem Leben fing schön an: Wir waren zum Grillen bei Freunden eingeladen, am Pool ihres Wohnkomplexes. Judah trug Schwimmflügel, weil ich dachte, das wäre sicherer. Nach etwa 20 Minuten im Wasser mit seinen Geschwistern und Freunden wurde ihm kalt. Er kam aus dem Wasser und fragte nach etwas zu trinken und seinem Handtuch. Es war so mühsam, ihn mit den Schwimmflügeln abzutrocknen und ins Handtuch zu wickeln. Also habe ich sie ihm abgenommen.

Es war der schlimmste Fehler, den ich je gemacht habe. Ich habe ihn aufgewärmt und in sein Handtuch gewickelt, und und setzte ihn auf einen Stuhl. Wir Erwachsenen waren alle nah am Pool, beobachteten die Kinder und zählten in regelmäßigen Abständen die Köpfe. Judah wollte lieber auf meinem Stuhl sitzen und versuchte, mich runterzuschubsen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich lachte und ihm sagte, wie frech er sei.

Ich wusste nicht, dass es die letzten Worte wurden, die er je von seiner Mama hören würde.

Nachdem ich ihn zurück auf seinen Stuhl gesetzt hatte, beobachtete ich weiter den Pool und sprach mit meiner Freundin. Judah entwischte irgendwie und ging, ohne dass wir etwas bemerkten, zurück in den Pool – ohne seine Schwimmhilfe. Es war vielleicht eine Minute vergangen, seitdem ich ihn das letzte Mal außerhalb des Pools gesehen hatte, als wir wieder Köpfe zählten und ich merkte, dass er nicht mehr bei mir war.

Ich wurde panisch. Meine Freundin und ich rannten wie wahnsinnig herum, suchten ihn und schrieen nach ihm….“Judah… Baby Boy… Juju!“
Es vergingen mehrere Minuten, bevor ich ihn im Pool sah. Direkt neben den Treppen. Vollständig untergetaucht und leblos im Wasser. Er befand sich auf etwa der Hälfte der Tiefe des Pools, was, wie ich erst viel später erfuhr, bedeutete, dass seine Lunge sich zu dem Zeitpunkt schon fast vollständig mit Wasser gefüllt hatte.

Ich erstarrte. Ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ich konnte nicht denken. Alles was ich tun konnte, war dort zu stehen, völlig unkontrolliert zu zittern und seinen Namen zu schreien.

„Judah! Nicht mein Baby… Oh Gott, bitte nicht mein Baby… Nicht mein Baby!“

Meine Freundin rannte an mir vorbei und zog ihn aus dem Wasser. Sein kleiner, schlaffer Körper war übersät mit blauen und lila Flecken. Er atmete nicht und meine Freundin konnte keinen Herzschlag finden. Sie wählte den Notruf, während unsere Ehemänner sich mit den Wiederbelebungsmaßnahmen abwechselten, bis der Notarzt kam.

Neun Minuten später. Ich kreischte, sie sollen sich beeilen. Alles und jeder bewegte sich so langsam und ich konnte nicht verstehen, warum sie nicht rannten, um mein Baby zu retten. Später erzählte mir jemand, dass sie sehr wohl rannten. An einem gewissen Punkt schafften die Notärzte es, dass sein Herz wieder schlug und wir fuhren den schrecklich langen Weg in die beste Trauma-Klinik für Kinder in Houston, wo wir die nächsten zweieinhalb Tage auf der Kinder-Intensivstation verbrachten. Sein Zustand war kritisch und er war an lebenserhaltende Apparate angeschlossen.

Die Ärzte schätzten, dass sein Herz für etwa 35 Minuten lang still gestanden hatte.

Fast genauso lange, wie sie versucht hatten, ihn wiederzubeleben. Die Prognose der Ärzte war von Anfang an schlecht. Sie sagten uns, dass sein Gehirn so lange ohne Sauerstoff war, dass seine Überlebenschance bei weniger als 30% lag. Und selbst wenn er überleben sollte, dann nur mit er schwersten Hirnschädigungen, und er wäre wahrscheinlich bis zum Ende seines Lebens auf Maschinen angewiesen.

Ich hörte, was die Ärzte sagten, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich konnte sie nicht bis in mein Hirn vordringen lassen. Ich konnte nicht verstehen, dass mein lebhafter kleiner Junge, so voller Leben, mit seinen Schwestern und Brüdern so herumtobt, mich aus meinem Stuhl schubst und dann, weniger als eine Stunde später, im Koma in einem Krankenhausbett liegt und noch nicht einmal in der Lage ist, seine eigene Körpertemperatur aufrecht zu erhalten.

Alles was wir tun konnten, war warten. Also warteten wir. Wir beobachteten ihn. Wir hielten uns im Arm, während wir über unser kostbares Kind wachten.

Ich hielt seine kalte Hand und weinte, als ich ihn anflehte, sich zu bewegen.

Nur ein kleines bisschen… Gib mir nur ein Zeichen…Irgendetwas, um mich wissen zu lassen, dass er noch da war, dass er bereit war, den Kampf aufzunehmen. Der starke kleine Junge, den ich kannte, der nur Momente nach seiner Geburt meine Brust hinaufkletterte, musste diesen Kampf kämpfen können. Lieber Gott…lass ihn kämpfen.

 

 

Die ganze Zeit über sahen die Ärzte eine kleine Reaktion in Judahs linker Pupille, was bedeutete, dass eine gewisse Hirnaktivität noch vorhanden war.

Und solange das Hirn noch arbeitete, so lange bestand noch Hoffnung. Für weitere anderthalb Tage beobachteten die Ärzte noch die Reaktion.

Und dann… war sie weg. Jede Aktivität war weg. Die Geräte versuchten meinem Mann und mir die Wahrheit zu sagen. Judahs Hirn konnte den Schäden nicht standhalten. Er war gegangen.

Die Krankenhausangestellten erlaubten Judahs Geschwistern, ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor sie den offiziellen Test durchführten, um den Hirntod festzustellen. Er bestand ihn nicht. Sie nahmen eine weitere Einschätzung vor, zwölf Stunden später, auch diese bestand er nicht. Zwischen den Beurteilungen machten sie einen weiteren Test, um herauszufinden, ob Blut in sein Hirn floss. Doch es war kein Blutfluss nachzuweisen.

Sie erklärten ihn für hirntot.

Man brachte uns schnell in ein kaltes Büro, und wir entschlossen uns, sein mutiges Herz und seine kostbaren Organe an Mädchen und Jungen zu geben, die sie brauchten.

Mittendrin unterbrach uns Judahs Arzt plötzlich und erklärte aufgeregt, dass Judah einen Herzstillstand erlitten hatte und sie ihn wiederbeleben mussten. Wir sahen Ärzte und Pfleger in seinem Zimmer herumrennen, und ein Arzt rief : „Es ist zu viel für seinen Körper!“

Sein Herz stand zum dritten und letzten Mal still. Sein wunderschönes kleines Herz konnte einfach nicht mehr und gab auf.

Judah starb am 26. September 2016 um 21.51 Uhr. Er wurde in der Woche darauf beerdigt.

Wir waren, wir sind, und werden immer am Boden zerstört sein. Er war der Jüngste unserer sieben Kinder. Unser einziges gemeinsames Kind. Er war unser letztes Baby. Er wird immer unser Judah sein.

Als ich auf der Kinderintensivstation saß und hilflos dabei zusah, wie Judah starb, hörte ich, dass Ertrinken die häufigste Ursache für tödliche Unfälle bei Kindern zwischen ein und vier Jahren ist. Bei Kindern zwischen vier und vierzehn Jahren liegt Ertrinken immer noch auf Platz zwei der häufigsten Unfalltode. Und Jungs ertrinken noch viel häufiger als Mädchen.

Ich wurde wütend. Wütend, weil ich diese Dinge das erste Mal hörte, als mein Kind im Sterben lag und vor meinen Augen zu einer Zahl in den Statistiken wurde.

Warum hatte ich nicht von seinen Kinderärzten davon gehört? In der Vorschule? Warum stand das nicht in einem der vielen Elternratgeber, auf die ich mich immer verließ?

Mütter dürfen ihre Babys nach der Geburt nicht mit nach Hause nehmen, wenn sie nicht einen ordnungsgemäßen Sitz im Auto haben. Wir lernen alles über die Sicherheit von Autositzen ab dem Moment, in dem wir erfahren, dass wir schwanger sind. Aber Ertrinken ist vierzehn Mal häufiger die Todesursache für kleine Kinder als ein Autounfall.

Warum sprechen wir so selten über diese enorme und tödliche Gefahr für unsere Kinder?

Ich war mehr als wütend. Ich war außer mir vor Wut.

Wieso hat mir niemand erzählt, dass Kinder innerhalb von 30 Sekunden ertrinken können? Dass es komplett lautlos passiert, und nicht wie im Fernsehen, mit Schreien und Winken und spritzendem Wasser? Niemand weiß, dass Schwimmhilfen den Kindern ein falsches Gefühl der Sicherheit geben. Oder dass Kinder unter fünf Jahren gar nicht verstehen können, dass es die Schwimmflügel sind, die sie über Wasser halten, und nicht ihr eigenes Können. Die Schwimmhilfen machen sie mutiger, so dass sie auch angstfrei ins Wasser laufen, wenn sie sie nicht tragen.“

— Judah’s Mama Annette

Aus ihrer Wut und Hilflosigkeit heraus gründeten Judahs Eltern mithilfe seiner Vorschullehrerin das „Judah Brown Project“. Mit Broschüren, Flugblättern, Aufklärungs-Kursen und der Finanzierung von Schwimmtrainings wollen sie vor allem Eltern von Kindern zwischen sechs Monaten und sechs Jahren vor einem ähnlichen Schicksalsschlag bewahren. Hier kann man das Projekt unterstützen, durch Spenden oder das Sponsoring eines Schwimmkurses für ein Kind.

Ein besonderes Anliegen ist ihnen die Aufklärung über die Unterschiede zwischen einem „normalen“ Schwimmunterricht und den sogenannten Überlebens-Schwimmkursen. Während der traditionelle Schwimmunterricht die Kinder lehrt, wie sie Schwimmzüge korrekt ausführen, lernen sie in den Überlebens-Kursen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie ins Wasser fallen. So zum Beispiel, wie sie sich von allein auf den Rücken drehen können, um im Wasser zu treiben oder die Luft anzuhalten und so ein zusätzliches Zeitfenster für eine Rettung zu schaffen. 

 

Derartige Überlebens-Schwimmkurse sind in den USA viel verbreiteter als bei uns. Wir haben bei Dr. Harald Rehn von der DLRG nachgefragt, warum das so ist. „Zuerst einmal: Der beste Schutz vor dem Ertrinken sind Mama oder Papa. Egal, welche Schwimmhilfe oder welchen Kurs ein Kind gemacht hat, nichts ist so sicher, wie ein Elternteil, dass mit dem Kind im Wasser ist. Für ganz kleine Kinder empfehlen wir Schwimmkurse zusammen mit den Eltern, auf deren Arm Kinder erste Erfahrungen mit Wasser machen können. Dabei sollten Kinder aber zu Nichts gedrängt werden, um um einen angstvollen Umgang mit Wasser zu vermeiden. Es kursieren Videos, in denen Babys einfach ins Wasser geschubst werden, sich umdrehen und ‚paddeln‘. Das sieht beeindruckend aus, aber ich halte das für fragwürdig, weil es eher ein Überlebenskampf ist, dem die Kinder ausgesetzt sind.“ Niemals sollte man so etwas einfach mit seinem Baby ausprobieren. Erst mit etwa fünf Jahren können laut Dr. Rehn Kinder bewusste Bewegungen ausführen, um sich über Wasser zu halten.

Dass die Geschichte von Judah kein tragischer Einzelfall ist, zeigen die Zahlen der DLRG. Allein im Jahr 2018 kamen 504 Menschen durch Ertrinken in ganz Deutschland zu Tode. Darunter elf Kinder im Grundschul- und 15 im Vorschulalter, also genauso alt wie Judah.

Ein Moment der Unachtsamkeit kann genügen, denn Kinder können in weniger als einer Minute ertrinken – auch in flachem Wasser.

Mehr Infos über das Judah Brown Project findet ihr hier und auch auf Instagram.

Habt einen sicheren Sommer liebe Mamas!

Kind mit Schwimmhilfen

Kind mit Schwimmhilfen Foto: Bigstock

 

 

Laura Dieckmann
Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

Alle Artikel

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
1 Kommentar
Neueste
Älteste Beliebteste
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Erika Witschi
Erika Witschi
5 Monate zuvor

Wir haben in der Schweiz die SLRG d.h. Schweizerische Lebensrettung Gesellschaft. Ich unterstütze diese Institution seit ich Geld verdiene. Das Beste was ich tun kann. Erika Witschi CH 3113 Rubigen Kanton Bern