Hyperinsulinismus: „Die Ärzte gaben mir die Schuld am Zustand meiner Tochter.”

Als Nadjas Tochter mit zu niedrigem Blutzucker zur Welt kam, gaben ihr die Ärzte schnell die Schuld: Ihr Diabetes müsse verantwortlich sein. Was folgte, war ein Jahr voller Zweifel, Schuldgefühle und zermürbender Nächte. Erst viele Monate später wurde klar, dass ihre Tochter an einer seltenen genetischen Form von Hyperinsulinismus leidet. Heute erzählt Nadja ihre echte Geschichte – um aufzuklären und anderen betroffenen Familien Hoffnung zu geben.

Meine Tochter kam mit neonataler Hypoglykämie, also zu niedrigem Blutzucker, auf die Welt. Unerkannt und unbehandelt können diese
Unterzuckerungen zu Hirnschäden, Entwicklungsverzögerungen, Epilepsie oder sogar zum Tod führen.

Die Ursachen für kurzfristigen niedrigen Blutzucker bei Neugeborenen sind vielfältig: Frühgeburtlichkeit, Infektionen, hormonelle Störung, sogar Geburtstrauma und Stress. Die Ursache bei meiner Tochter war vermeintlich schnell gefunden: mein Typ 1 Diabetes. Das damit eine Odysee voll Tränen,

Eine Reise von Verzweiflung und Wut begann.

Und erst ein Jahr später, über 400km von zu Hause entfernt, sollte diese endlich enden. Doch davon ahnten wir nichts. Neonatale Hypoglykämie tritt häufig bei Mamas mit Diabetes auf, wenn der Blutzucker in der Schwangerschaft schlecht eingestellt und häufig und langanhaltend zu hoch ist.

Davon wusste ich, deshalb habe ich mich auch vorbildlich um mein Blutzuckermanagement gekümmert. Ich war, als ich schwanger wurde, bereits 20 Jahre insulinpflichtige Diabetikerin, hatte eine Insulinpumpe und einen Glukosesensor. Ich wollte Schäden für mein Kind vermeiden, war deshalb sehr diszipliniert.

Deswegen hatte ich Blutzuckerwerte, die denen eines gesunden Menschen nahe kamen.

Die Ärzte auf der Neonatologie schlossen unsere Tochter an Glukoseinfussionen an, nachdem ihr Blutzucker 10 Stunden nach der Geburt immer noch nicht wirklich steigen wollte und prognostizierten uns, dass in 1-3 Tagen alles okay sein sollte. Solange braucht der Körper eines Babys in der Regel um die eigenständige Insulinproduktion anzupassen.

Doch der dritte Tag kam und unsere Tochter hing immer noch an einer hohen Dosis Glukose, um ihren Blutzucker halten zu können. Und so verging auch die erste Woche und dann die zweite. Ihr Zustand besserte sich zwar, jedoch mussten wir sie immer noch konsequent alle drei Stunden füttern und extra Dextrose in ihr Fläschchen geben.

Nur so erreichte sie Blutzuckerwerte die zwar weiterhin niedrig aber nicht mehr lebensbedrohlich waren.

Immer wieder stellten mir die Ärzte die Frage nach meiner Blutzuckereinstellung, debattierten sogar über die Genauigkeit meines Sensors zur Dauerüberwachung. Es war als gab es nur eine mögliche Erklärung, nämlich das ich die Schuldige am Zustand meiner Tochter bin.

In der dritten Woche auf der Neonatologie kippte die Stimmung immer weiter. Unsere Maus konnte nun durch regelmäßiges Stillen nach drei Stunden ihren Blutzucker knapp über 60mg/dl halten. Das war genug für die Ärzte und ich bekam das Gefühl, man wollte uns langsam raushaben.

Auch ich wollte gerne nach Hause, fühlte mich jedoch unglaublich unsicher.

Später erfuhr ich, dass dies berechtigt war. Denn laut Leitlinie und Expertenmeinung sollten Säuglinge mit so langanhaltenden Unterzuckerungen erst entlassen werden, wenn sie nach sechs Stunden Fasten stabil einen Wert über 70mg/dl halten können.

Nach 21 Tagen wurden wir mit der Diagnose transienter (vorübergehender) neonataler Hyperinsulinismus entlassen, allerdings sollten wir weiterhin alle drei Stunden stillen, müssen daheim jedoch nicht auf den Blutzucker achten, da dieser ja stabil wäre. Wann wir denn längere Phasen ohne Stillen, insbesondere Nachts, probieren könnten, wurde uns nicht gesagt.

Wir sollten lieber froh sein!

Andere Familien würden entlassen werden und müssten sogar alle zwei Stunden füttern. Unsere Tochter würde da schon bald ‚rauswachsen‘, denn schließlich habe sie nur Anpassungsstörungen, die auf meinen (angeblich schlecht eingestellten) Diabetes zurückgehen. Doch die Monate vergingen und ich stillte weiterhin alle 3-4 Stunden, um ihren Blutzucker stabil zu halten.

Tatsächlich war der Stillbedarf unserer Maus jedoch wesentlich geringer und so musste sie, insbesondere nachts, aktiv zum Stillen geweckt werden, um sie mit viel Geduld und Tränen zum aktiven Trinken zu bringen.

Ich hatte das Gefühl, dass das alles nicht normal war.

Also wurde ich mit ihr in einer Stoffwechselambulanz vorstellig. Inzwischen hatte ich den Verdacht, dass ihr Zustand vielleicht auf einen Genfehler zurückzuführen ist. Hyperinsulinismus kann durch eine Reihe verschiedener defekter Gene ausgelöst werden.

Zwei davon lösen Hyperinsulinismus in Kombinatiom mit Mody Diabetes aus. Das ist eine sehr spezielle Form von Diabetes. Da es
sich um einen Gendefekt handelt, wird diese Krankheitsbild in mehrere Generationen weitergegeben. Sowohl meine Mutter als auch
mein Bruder haben Diabetes, das machte also Sinn!

Doch auch hier wurde ich nicht ernst genommen.

Ein Gendefekt wäre ja doch sehr unwahrscheinlich, aber wenn ich dem nachgehen möchte, müsste ich mich untersuchen lassen. Drei Monate später bestätigten meine Blutbilder, dass ich gar keinen Typ 1 Diabetes im klinischen Sinn habe und der Gentest zeigte einen Defekt auf HNF4a.

Weitere 3 Monate darauf bekam meine Tochter das selbe Ergebnis. Inzwischen war sie 9 Monate alt. Neben HNF4a, gibt es noch 8 weitere Gene die mit Hyperinsulinismus in Verbindung gebracht werden, jedoch vermutet man, dass es noch weitere defekte Gene gibt, die diese
Krankheit auslösen.

Ich stillte noch immer alle 2-4 Stunden (Tag und Nacht), um irgendwie den Blutzucker unserer Tochter stabil zu halten.

Die ganze Situation belastete mich, unsere Familie und die Stillbeziehung zu meiner Tochter extrem. Das Stillen wurde für uns beide zum Zwang.

Ich war nur noch verzweifelt, overtouched und überreizt. Wir wussten, das kann nicht ewig so gehen, deshalb nahmen wir Kontakt mit der Universitätsklinik Düsseldorf auf. Nach langer Recherche fanden wir raus, dass es dort einen Spezialisten für Hyperinsulinismus gab, der uns in der Woche nach dem ersten Geburtstag unsere Maus stationär aufnahm.

In der Klinik musste sie über Nacht 14 Stunden Fasten und ihr Blutzucker wurde engmaschig gemessen.

Es zerbrach mir das Herz, aber danach hatten wir Gewissheit, dass ihr Körper immer noch zu viel Insulin ausschüttete. Ein Jahr, nachdem uns gesagt wurde, sie würde schon bald aus ihrem Zustand rauswachsen. Ein Jahr nachdem uns gesagt wurde, wir sollen/
müssen nicht mehr auf den Blutzucker achten.

Nadja und ihre kleine Tochter nachts in der Klinik.

Nadja und ihre kleine Tochter nachts in der Klinik. Foto: Privat

Die Wahrscheinlichkeit einer schweren Unterzuckerung wurde nun glücklicherweise als nur noch sehr gering eingestuft, aber um einen
normalen Alltag zu gewährleisten, in dem sie essen kann, wann und wie viel sie möchte, würden wir ihr Medikamente verabreichen müssen, was wir auch taten.

Seitdem ist nicht nur eine riesige Last von uns abgefallen, sondern endlich ein Stückchen Normalität eingekehrt.

Unsere Tochter darf nachts endlich so lange schlafen wie sie will. Tagsüber gerate ich nicht mehr in Panik, wenn sie das Essen nur durch die Gegend wirft und wir können uns nun auch endlich Gedanken über den Kita-Start machen.

Noch heute bin ich unendlich wütend, wenn ich daran denke, dass uns die ganzen Strapazen im ersten Jahr erspart geblieben wären, wenn die Ärzte auf der Neonatologie nicht so voreingenommen gewesen wären! Hätte ich ihren Rat befolgt und einfach alles dabei belassen, wäre meine Tochter wahrscheinlich noch einige Male schwer unterzuckert und hätte vielleicht langfristige Schäden davongetragen.

Doch leider ist das keine Seltenheit.

Wir haben online eine weltweite Community gefunden mit Eltern betroffener Kinder. Oft hört man, dass Kinder erst Monate später, nach schweren Unterzuckerungen, mit Hyperinsulinismus diagnostiziert werden.

Das liegt oft daran, dass Blutzuckermessungen bei Säuglingen keine Standardprozedur sind und es gibt wenig Aufklärung über die Krankheit.  Zusätzlich sind sich die Eltern oft nicht bewusst, dass sie ggf. ein defektes Gen an ihre Kinder weitergegeben haben.

Ich verarbeite die Zeit auf der Neonatologie in Therapie und kann für meine Tochter nur hoffen, dass sie sich später nicht mehr an dieses schwere erste Jahr erinnern kann.”


Liebe Nadja, vielen Dank, dass wir deine berührende Geschichte erzählen durften. Wir wünschen dir alles Liebe für die Zukunft!

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Lena Krause

Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg und übe mich als Patentante (des süßesten kleinen Mädchens der Welt, versteht sich). Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach!

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