„Meine psychisch kranke Mutter wollte mich umbringen!“

Anika ist zwei Jahre alt, als ihre Mutter ihren gewalttätigen Vater verlässt. Die ersten Jahre gibt sie als alleinerziehende Mama ihr Bestes, doch dann wird sie psychisch krank. Anika und ihr Bruder verbringen immer wieder viel Zeit bei ihren Großeltern – bis eine Sozialarbeiterin sie ins Heim bringt. Nach dem Tod ihrer Mutter viele Jahre später findet Anika deren Tagebücher – und ist erschüttert darüber, was sie dort lesen muss. Ihre bewegende Echte Geschichte hat Anika uns erzählt: 

„Vor kurzem habe ich bei euch die Geschichte von Ben gelesen, der im Alter von zehn Jahren ins Heim kam und erst bei seinen Großeltern ein liebevolles Zuhause fand. Sein Schicksal hat mich sehr berührt und mich an meine eigene Kindheit erinnert. Ich bin mit einer psychisch kranken Mutter aufgewachsen, unsere Beziehung war schon immer „speziell“. Aber von vorn:

Ich bin 1981 geboren, mein Bruder war zu diesem Zeitpunkt 2,5 Jahre alt.

Unser Erzeuger war gewalttätig und herrisch meiner Mutter gegenüber.

Es gab Schläge, Verbrennungen mit glühenden Kohlen, Verfolgung und Freiheitsentzug. Meine Mutter schaffte es erst 1983 mit uns auszuziehen.

Ein Mann spielte in ihrem bzw. unserem Leben nie wieder eine Rolle, jedenfalls nicht ernsthaft.

An meine Kindheit habe ich bis ca. 1990 viele positive Erinnerungen.

Meine Mutter arbeitet in Vollzeit als Kindergärtnerin. Sie versuchte, ihre Rolle als alleinerziehende Mutter so gut es ging zu erfüllen. Es gab keine Form von Gewalt.

Ich erinnere mich daran, dass ich 1986 etwa zwei Monate bei meinen Großeltern verbrachte und auch dort in die Kita ging. Mein Bruder war parallel bei einer Kur.

Zu der Zeit wurde meine Mutter zum ersten Mal in der geschlossenen Psychiatrie behandelt.

Nach der Wende wurde meine Mutter zunehmend labil. Sie ging nicht mehr arbeiten und entwickelte eine Bulimie. Oft hörte ich sie im Bad erbrechen und suchte nach Antworten bei meinem Bruder.

Ich war 9 Jahre alt und dachte sie hätte eine Magen-Darm-Erkrankung. Mein Bruder wusste natürlich auch keine Erklärung und tat es ab mit den Worten: ‚Wer weiß, das wird schon wieder…‘.

In den folgenden Jahren kam meine Mutter mindestens einmal pro Jahr in die Psychiatrie.

Für uns Kinder bedeutete das jedes Mal, das wir von unseren Großeltern betreut wurden.

Anika verbrachte viel Zeit bei ihren Großeltern, wenn ihre Mutter in der Klinik war.

Anika verbrachte viel Zeit bei ihren Großeltern, wenn ihre Mutter in der Klinik war.
Foto: privat

 

Am Anfang war das vollkommen okay, aber mit zunehmender Pubertät wurde es immer schwieriger. Denn unsere Großeltern waren sehr altmodisch – und wir waren rebellisch. Vor allem ich habe es oft ausgenutzt, dass meine Mutter nicht greifbar und keine stabile Erziehungsperson war. Ich war viel unterwegs, habe geraucht und getrunken. Zuhause war es angespannt und es gab viele gegenseitige Vorwürfe.

Ostern 1993 waren wir mit unseren Großeltern zu Besuch bei Verwandten in Belgien. Eines Abends rief plötzlich die Kripo an und teilte uns mit, dass meine Mutter zuhause aufgefunden wurde und reanimiert werden musste.

Sie hatte mit einer riesigen Menge Tabletten und Alkohol versucht, sich umzubringen.

Ein paar Stunden später wäre es zu spät gewesen. Sie war also auf der Intensivstation, danach kam sie wieder in die Psychiatrie.

Ich sollte zu der Zeit auf Klassenfahrt fahren, und meine Großeltern waren der Meinung, ich müsse meine Mutter noch mal sehen, falls sie es nicht schaffen würde. Also stand ich mit meinen zwölf Jahren am Bett einer halb verhungerten Person, die ich so sehr liebte – und gleichzeitig dafür verachtete und hasste, was sie getan hatte.

‚Wie konnte sie nur ihre Kinder im Stich lassen wollen?‘ – Das war die Frage, die mich die ganze Zeit über nicht losließ.

Die folgenden Jahre waren schlimm.

Für meine schwer psychisch kranke Mutter drehte sich alles nur um Geld, essen, sich übergeben und Medikamente. Sie versuchte, nach außen hin einen Schein zu wahren und versorgte uns mit den nötigsten Dingen. Aber sie war nicht ‚da‘ für uns. Keine liebende Mutter mit offenem Ohr für unsere Probleme.

Wir waren in der Pubertät und mehr oder weniger uns selbst überlassen. Meine Ansprechpartnerin war die Schulsozialarbeiterin.

Ich war unausstehlich. Ich habe den Unterricht gestört, geraucht, getrunken, gemobbt.

Ich schämte mich für meine Mutter, die in unserer Kleinstadt sehr viele Leute kannten.

Sie wurde immer dünner, teilweise wog sie nur noch 38 Kilo bei einer Größe von 1,62 Meter. Ständig taumelte sie wegen der Tabletten oder des Alkohols.

Mit 15 Jahren lernte ich meinen ersten festen Freund kennen. Er war neun Jahre älter und konsumierte Cannabis, Ecstasy und Amphetamine. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich auch dabei war. Die Wochenenden verbrachte ich also meist dort und dröhnte mich zu.

Eines Morgens legte ich mich zu Hause ins Bett und schlief ein. Irgendwann stand plötzlich meine Mutter an meinem Bett uns sagte:

‚Steh auf, du kommst jetzt ins Heim!‘

Erst habe ich sie gar nicht ernst genommen. Aber als sie sich wiederholte, wurde ich wütend, stand auf und packte ein paar Sachen zusammen. Meine einzigen Worte an meine Mutter waren: ‚Wenn du mich schon abschiebst, gib mir wenigstens noch Zigaretten mit!‘ Als ich in die Küche kam, lag dort das große Messer. Das habe ich allerdings erst später realisiert.

Unsere Schulsozialarbeiterin kam und brachte mich in unserer Stadt ins Heim.

Im Nachhinein betrachtet war das meine Rettung!

Ich lebte mich recht schnell ein und machte zum Glück noch meinen Realschulabschluss. Richtig verzeihen konnte ich meiner Mutter trotzdem nie. Ich machte eine schulische Ausbildung, erst zur Kinderpflegerin, danach zur Erzieherin. Drogen spielten nach wie vor eine Rolle in meinem Leben, aber nicht mehr unter der Woche. Am Wochenende griff ich zu Partydrogen.

Ich lernte einen neuen Mann kennen und wurde liebevoll in seiner Familie aufgenommen.

Da war ich 20 Jahre alt und habe endlich erfahren, wie es ist, in einer behüteten und liebevollen Familie zu leben. Er wurde aber nicht der Vater meiner Kinder. Mit ihm erlitt ich eine Fehlgeburt in der 13. Schwangerschaftswoche.  Den Wunsch, Mutter zu werden, hatte ich immer. Er erfüllte sich im Jahr 2010. Allerdings stand auch ich ohne den Vater meines Kindes da.

Im Jahr 2017 lernte ich dann meinen jetzigen Partner kennen, 2020 kam unser gemeinsamer Sohn zur Welt.

Wie wahrscheinlich für fast jede Mama sind meine beiden Jungs für mich das Wichtigste auf der Welt. Ich liebe sie mehr, als ich es beschreiben kann. Sie liebevoll und „richtig“ zu erziehen, fällt mir aber leider nicht immer leicht. Denn durch das Aufwachsen mit einer psychisch kranken Mutter habe ich viele Dinge nicht von ihr gelernt.

Jeden Tag habe ich Angst, dass sich meine eigene Geschichte negativ auf unser Verhältnis oder meinen Erziehungsstil auswirken könnte.

Mein älterer Sohn hatte bis ins Jahr 2021 Kontakt zu seiner Oma. Für den Kleinen wollte ich das nicht. Er sollte ihre komplexe Störung, Depression, Borderline, Sucht usw. nicht mitbekommen. Meine Mutter hielt mir das natürlich immer vor und beschwerte sich, dass sie ihren jüngeren Enkel kaum sehen durfte. Mir tat der Abstand aber auch gut. Ihre ständigen Forderungen belasteten mich, und ich wollte endlich mit diesem Kapitel abschließen.

Im März 2023 erhielt ich von meinem Bruder die Nachricht:

‚Muttern ist im KKH und will sterben‘.

Da sie das schon häufiger wollte, blieb ich erst einmal ruhig und rief ihn an. Er lebt etwa 250 km entfernt. Er sagte mir, dass er vormittags bei ihr war und sich verabschiedet hat. Es war ihr also wirklich ernst. Ich nahm meinen großen Sohn und fuhr mit ihm ins Krankenhaus. Er sollte sie halbwegs fit und wach in Erinnerung behalten. Ich gab ihm kurz Zeit, um allein mit ihr zu sprechen, dann verabschiedete auch ich mich bei ihr. Sie hatte eine schwere Darm-OP hinter sich und wollte keine Maßnahmen mehr außer Morphium. Zu diesem Zeitpunkt war sie 71 Jahre alt und hatte die letzten 30 Jahre auf ihren Tod ‚hingearbeitet‘.

Der Gedanke schmerzte und fühlte sich doch erleichternd an.

Ich fuhr nach Hause und lag lange wach. Wir hatten nur uns Drei und Oma und Opa, die mittlerweile auch gestorben waren. Ich konnte meine Mutter einfach nicht allein sterben lassen. Also bin ich am nächsten Tag wieder zu ihr gefahren und habe sie fünf Tage lang beim Sterben begleitet.

Es war eine der schlimmsten Erfahrungen in meinem Leben und gleichzeitig auch heilend für mich.

Ich spielte ihr ihre Lieblingsmusik vor, und wir redeten anfangs noch darüber, wie sie sich ihre Trauerfeier wünscht. Es gab kein Wort der Versöhnung, kein ‚Es tut mir leid‘ ihrerseits oder ähnliches.

Am 8.  März 2023 hatte sie es dann geschafft.

Etwa drei Wochen später begann ich, in ihren Tagebüchern zu lesen.

Es waren insgesamt zwei große Koffer voll. Eigentlich wollte ich nur genau wissen, warum ich ins Heim gekommen bin. Aber was ich lesen musste, zeigte mir, wie krank sie eigentlich wirklich war. Sie schrieb immer wieder Dinge wie: ‘Die Kinder schlafen tief und fest, sie würden es nicht merken, wenn ich es mit dem Messer mache‘.  Oder dass sie traurig war, dass ich lebend vom Zelten zurückkam oder mein Bruder den Autounfall mit seinem Kumpel überlebt hat. Auch andere Ideen, uns loszuwerden, beschrieb sie.

An dem Tag, an dem ich in Obhut genommen wurde, war es das Messer in der Küche, das sie benutzen wollte. Sie traute sich dann aber wohl doch nicht und rief die Schulsozialarbeiterin an.

Diese schlimmen Dinge zu lesen, hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen.

Ich versuchte immer wieder, mir einzureden, dass die Schizophrenie sie zu solchen Gedanken getrieben hatte. Trotzdem war ich sehr lange Zeit sehr traurig. Mehr oder weniger zufällig fuhr ich ausgerechnet während dieser Zeit zur Mutter-Kind-Kur. Diese drei Wochen haben mir die Augen dafür geöffnet, was wirklich zählt. Nämlich, dass sie mich nicht getötet hat. Dass ich lebe, gesund bin und eine tolle Familie habe.

Ich habe beschlossen, dass meine Vergangenheit immer mein Trauma sein darf, aber niemals meine Zukunft beeinflussen soll!

Es lässt sich leider nicht zu ändern. Aber es wird mich nicht brechen und erstrecht nicht die Liebe zu meinen Kindern beeinflussen! Ich weiß, wie ich nie sein möchte, und wie wichtig es für Kinder und Jugendliche ist, dass Eltern emotional an ihrer Seite sind.

Heute fühle ich mich frei und stark!

Es gibt Tage, da holt mich alles ein. Dann heule ich, gehe raus und atme tief durch. Ich führe mir vor Augen, für wen ich kämpfe, und wie schön das Leben ist. Und dann mache ich einfach weiter. Als Mama, Erzieherin, Hausbesitzerin und Frau.

Ein Kind kommt leider selten unbeschadet aus der Situation heraus, mit einem psychisch kranken Elternteil aufzuwachsen. Aber man kann sein Schicksal annehmen und das Beste daraus machen.“


Liebe Anika, vielen Dank, dass du deine bewegende Geschichte mit uns geteilt hast.

Echte Geschichten protokollieren die geschilderten persönlichen Erfahrungen von Eltern aus unserer Community.

Wir freuen uns auf deine Geschichte!

Hast Du etwas Ähnliches erlebt oder eine ganz andere Geschichte, die Du mit uns und vielen anderen Mamas teilen magst? Dann melde Dich gern! Ganz egal, ob Kinderwunsch, Schwangerschaft oder Mamaleben, besonders schön, ergreifend, traurig, spannend oder ermutigend – ich freue mich auf Deine Nachricht an [email protected]

Wiebke Tegtmeyer

Nordisch bei nature: Als echte Hamburger Deern ist und bleibt diese Stadt für mich die schönste der Welt. Hier lebe ich zusammen mit meinem Mann und unseren beiden Kindern. Nach meinem Bachelor in Medienkultur, einem Volontariat und einigen Jahren Erfahrung als (SEO-)Texterin bin ich passenderweise nach meiner zweiten Elternzeit bei Echte Mamas gelandet. Hier kann ich als SEO-Redakteurin meine Leidenschaft für Texte ausleben, und auch mein Herzensthema Social Media kommt nicht zu kurz. Dabei habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Ernährung von der Schwangerschaft über die Stillzeit bis hin zum Babybrei beschäftigt. Und wenn ihr auf der Suche nach einem Vornamen für euer Baby seid, kann ich euch garantiert passende Vorschläge liefern. Außerdem nutze ich die Bastel-Erfahrungen mit meinen beiden Kindern für einfache DIY-Anleitungen. Wenn der ganz normale Alltags-Wahnsinn als 2-fach Mama mich gerade mal nicht im Griff hat, fotografiere ich gern, gehe meiner Leidenschaft für Konzerte nach oder bin im Volksparkstadion zu finden.

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