„Ich dachte, es liegt an mir – bis feststand, mein Kind ist Autist.“

Als Constanzes Sohn auf die Welt kommt, ist alles anders als bei seiner großen Schwester. Er schreit sehr viel, schläft sehr wenig und ist oft aggressiv. Constanze sucht den Fehler bei sich und kämpft mit Schuldgefühlen. Doch nach vier Jahren bekommt die Familie endlich eine Diagnose: Lukas leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung, dem so genannten Asperger-Syndrom. Für Constanze und ihren Mann eine Erleichterung – und gleichzeitig eine Herausforderung, die bis heute anhält. Was genau die Diagnose für sie bedeutet, wie ihr Sohn damit umgeht, und was sie anderen Betroffenen sagen möchte, hat Constanze uns in ihrer Echten Geschichte erzählt.

„Vor kurzem habe ich eure Echte Geschichte über das 4-jährige Mädchen mit der schweren Gefäßerkrankung gelesen. Inklusion ist einfach so ein unfassbar wichtiges Thema! Wie so vielen Menschen ist uns das erst so richtig bewusst geworden, als unser Sohn auf die Welt kam, und wir letztendlich die Diagnose ‚Autismus Spektrum Störung‘ bekamen. Wenn ich heute zurückdenke, wird mir erst klar, wie wenig Ahnung wir damals eigentlich vom Leben hatten.

Wir sind eine Familie mit drei Kindern im Alter von 16, 12 und 10 Jahren. Zwei unsere Kinder sind so genannte ‚neurotypische‘ Kinder und Lukas, der Mittlere von den Dreien.

Der Weg zur Diagnose meines Sohnes und unser Weg danach ist gleichzeitig das anstrengendste, aufregendste, traurigste, glücklichste und unfassbarste Thema, das ich in meinem Leben bisher erzählen kann.

Die Diagnose ‚Autismus-Spektrum-Störung‘ (ASS) kam, als Lukas drei Jahre alt war.

Wenn ich es rückblickend betrachte, haben wir eigentlich schon an seinem ersten Lebenstag gemerkt, dass bei Lukas etwas anders ist als bei unserem ersten Kind. Das wäre aber in mehrerlei Hinsicht unfair: Zum einen möchte ich bei anderen Eltern keinen Druck und keine Erwartungshaltung erzeugen, dass sie etwas ‚merken müssen‘.

Zum anderen war mir selbst in der damaligen Situation die Eindeutigkeit der Symptomatik überhaupt nicht bewusst. Das heißt:

Wir waren überfordert, weil vieles anders war als bei unserem ersten Kind.

Allerdings haben wir keinerlei Rückschlüsse daraus gezogen, die auf eine Einschränkung oder ein Krankheitsbild bei unserem Kind hingedeutet hätten. Ganz im Gegenteil: Besonders für mich als Mama kann ich sagen, dass ich den Fehler oft bei mir gesucht habe.

Es hat mich innerlich zerrissen, dass ich meinem Kind nicht gerecht werden konnte, und unser Alltag so wenig schön war.

Ich dachte wirklich, mein Kind sei einfach nicht entspannt, weil ich es nicht war.

Zum damaligen Zeitpunkt war ich selbständig und konnte meinen Job nicht so einfach pausieren. Ich erklärte es mir damit, dass ich mir zu viel zugemutet hatte und nun mit zwei Kindern und eigener Firma überfordert war.

Erst als unser drittes Kind geboren wurde, haben wir gemerkt, dass es wirklich eine andere Ursache geben muss.

Ich muss jetzt noch den Kopf schütteln, wenn ich daran denke, wie unfassbar es für mich war, dass mein Baby einfach nur schlief.

Lukas war ein extremes Schreikind. Er hat so sehr geschrien, dass er innerhalb weniger Wochen nach der Geburt erst einen Nabelbruch und dann einen Leistenbruch bekommen hat. Als mit vier Jahren die Diagnose gestellt wurde, konnte man sogar Veränderungen an seinen Stimmbändern sehen.

Bis zu seinem vierten Geburtstag hat Lukas keine einzige Nacht mehr als 2 Stunden am Stück geschlafen.

Meistens wachte er zwischen zehn und zwölf Mal pro Nacht auf und schrie und schrie und schrie.

Ein großes Problem war auch seine Aggressivität – gegenüber seinen Geschwistern und anderen Kindern. Als er zwei Jahre alt war, versuchten wir, ihn für zwei bis drei Vormittage pro Woche in der Krippe einzugewöhnen. Das war nicht möglich, weil es bei einem Konzept mit mehreren Kindern einfach nicht möglich war, ihn zu betreuen.

Gleichzeitig war (und ist) Lukas in manchen Bereichen auffällig intelligent und früh entwickelt.

Er konnte mit 4 Monaten krabbeln, war mit 11 Monaten in der Lage, allein mit der Gabel zu essen. Im Alter von zwei bis drei Jahren konnte er sich an Dinge erinnern, die ein halbes Jahr oder Jahr zurück lagen. Mit drei Jahres stellte er sich auf den Esstisch in unserer Ferienwohnung und rezitierte das Gedicht ‚Der verrückte Bauernhof‘ von Helme Heine – frei und ohne Fehler.

Irgendwann sprach ich mit einem meiner Kunden über die Situation zuhause. Wir hatten sehr viel miteinander zu tun, deshalb kamen wir immer wieder ins Gespräch. Er war Kinderpsychologe, und nach einigen Gesprächen sagte er mit, er sei der Meinung, dass wir Lukas untersuchen lassen sollten, und er eine gute Adresse für uns habe.

Im Nachhinein war diese Empfehlung ein Geschenk, auch wenn es sich in der damaligen Situation erst einmal nicht so anfühlte.

In den Kopf eines Dreijährigen reinschauen? Das erschien uns beinahe unmöglich und sehr vage.

Für die erste Diagnostik fuhren wir über neun Monate hinweg zu insgesamt zwölf Terminen in eine Praxis in München – 200 km von zuhause entfernt. Lukas konnte zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gut Autofahren, im Nachhinein völlig klar! Allein der ‚Lärm‘ des Autos, der Straße, die vielen vorbeiziehenden Bilder, das Fixiert-Sein in seinem Sitz, muss für ihn absolut furchtbar gewesen sein.

Nach den zwölf Terminen stand die Diagnose für den Arzt fest:

Lukas hat das Asperger-Syndrom.

Nach neuerer Definition spricht man von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Dazu kommen Anteile von ADHS, und in einigen Bereichen ist er hochbegabt.

Der Arzt wollte die Diagnostik noch einmal von vorn in einer anderen Klink durchführen lassen, um eine Zweitmeinung zu bekommen. Die Wartezeit für einen Termin lag bei vier Monaten, was noch eher kurz ist, wie ich heute weiß. Die Diagnostik wurde nach speziellen Verfahren durchgeführt, es gab feste Versuchsaufbauten, vorgegebene Spielmaterialien und einen unendlichen Katalog an Fragen.

Nach weiteren vier Monaten stand die Bestätigung der Diagnose fest, und die Ärzte überwiesen mich mit meinem Sohn in eine Klinik.

Der Weg der doppelten Diagnose hat sich für uns richtig angefühlt, auch wenn er sehr hart war.

Wir haben uns sehr gesehen und ernst genommen gefühlt, auch wenn es keine konkrete Unterstützung gab.

Ganz viele der notwendigen Termine hatten (gefühlt) den einzigen Zweck, unser Kind komplett aus der Fassung zu bringen, an den Rand des Leistbaren, über seine Grenzen hinweg oder zumindest dorthin.

Fast jedes Mal habe ich einen kleinen zerstörten Menschen nach Hause getragen, der sich stundenlang die Seele aus dem Leib geschrien hat.

Diesen Weg als Eltern zu gehen, obwohl man selbst nicht einschätzen kann, ob er am Ende etwas bringt, hat sehr, sehr viel Kraft gekostet, und war von vielen Selbstzweifeln und Tränen begleitet.

Doch als die Diagnose feststand, habe ich vor allem eins gespürt: Erleichterung.

 Darüber, dass der Weg der Diagnostik zu Ende war. Darüber, dass es einen Grund gab. Darüber, dass wir nun versuchen konnten, Therapien und Wege zu finden.

Es war aber auch ein Prozess, die Diagnose anzunehmen. Das Gefühl, dass wir mit etwas konfrontiert wurden, das wir nicht kannten, über das wir viel zu wenig wussten, und bei dem uns auch niemand gefragt hat, ob wir es möchten. Wir hatten keine andere Wahl.

Doch die Diagnose hat uns die Möglichkeiten gegeben, damit umzugehen.

Sie hat uns den Zugang zu einer Autismus-spezifischen Therapie gegeben, den Weg für Lukas Schulbegleitung und die Nachteilsausgleiche geebnet, die er in der Schule hat – auch wenn er sie aus Stolz fast nie in Anspruch nimmt.

Trotzdem war der Weg für uns alle hart – und ist es heute immer noch.

Wir als Eltern mussten neben der anstrengenden Diagnostik unsere beiden anderen Kinder betreuen, beruflich funktionieren, mit unseren Selbstzweifeln umgehen und zusätzlich den Alltag mit einem autistischen Kind meistern, der besonders, als Lukas noch klein war, unglaublich anstrengend war.

Dazu kamen viele andere Dinge, mit denen wir zu kämpfen hatten:

Die Ablehnung durch andere Eltern, der Ausschluss aus Spielgruppen, ein täglicher Eingewöhnungsprozess im Kindergarten, der sich über zwei Jahre zog, ältere Familienmitglieder, die Lukas Diagnose leugneten, Bekanntem die sie klein redeten.

Ich musste meine Firma schließen und meine Angestellten entlassen, weil ich der Gesamtsituation nicht mehr gewachsen war. Es gab anstrengende Beurteilungen durch die Krankenversicherung bezüglich Pflegestufen, Diskussionen über Medikation ja oder nein, den Beantragungsprozess einer Schulbegleitung mit neuen psychologischen Gutachten, die Suche nach einer Person, der wir Lukas in seinem Schulalltag anvertrauen können.

Und das ist nur ein Teil der Liste. Dazu kommt nach wie vor der Alltag mit einem autistischen Kind, der uns oft ALLES abverlangt.

Alles an Mut, alles an Standfestigkeit, alles an Liebe. Bis nichts mehr im Akku drin ist.

Wir versuchen, unserem Sohn einen offenen Umgang nach außen und einen liebevollen Umgang mit sich selbst beizubringen.

Aber das ist leider ein schwieriger und langwieriger Prozess, der vermutlich nie enden wird.

Er steht mit 12 Jahren gerade am Beginn der Pubertät, nimmt seine Einschränkungen selbst wahr und verurteilt sich dafür. Sein Selbstbild ist für uns als Eltern manchmal kaum auszuhalten. Denn sein absoluter Perfektionismus und die Abwertung seiner selbst bringen ihn an tiefschwarze Punkte seiner Seele.

Wir können nur versuchen, ihn zu halten, für ihn da zu sein, ihm positiv vorzuleben und ihm Therapien zu ermöglichen. Trotzdem bleibt einem an schlechten Tagen nur, tieftraurig den Schmerz darüber zu ertragen, wie schlecht es ihm geht.

An anderen Tagen ist er wiederum schon sehr weit in seinem Prozess der Anerkennung und kann auch gut über seine besonderen Bedürfnisse oder Probleme sprechen.

Es gibt so viele Glücksmomente, wir könnten vor Stolz platzen, weil er so vieles schon gelernt hat und so viele Dinge für sich selbst möglich macht.

Wir haben für uns das Thema Städtereisen entdeckt. Im Herbst waren wir zum Beispiel in Rom.

Mit verschiedenen Strategien schafft es Lukas, wenn er etwas umsetzen möchte, sich Flügel wachsen zu lassen. Und ihn dann in diesen Situationen erleben zu dürfen, dabei sein zu dürfen, seine Eltern sein zu dürfen, das rührt mich schon beim Schreiben zu Tränen und ist eines der tiefsten Glücksgefühle überhaupt.

Unsere größte Herausforderung ist es, mit unseren Gedanken im Hier und Jetzt zu bleiben.

Keine Angst davor zu haben, was die Zukunft bringt, und ob es für Lukas möglich sein wird, selbständig zu leben und gut für sich selbst zu sorgen. So dass wir von der seelischen Konstitution her der Begleitung unseres Kindes überhaupt gewachsen sind.

Lukas Mama sein zu dürfen, hat ALLES verändert.

Unser wichtigstes Ziel ist es geworden, dass unsere Kinder und wir glückliche Menschen sind. Und wir haben gelernt, dass es dafür viele verschiedene Wege geben darf – für jeden von uns.

Eine Freundin ist Arzthelferin und hat mal beschrieben, was es für sie verändert hat, Lukas Geschichte zu kennen. Sie hat einen erwachsenen Patienten, der sich immer ‚seltsam‘ verhält und Dinge sagt wie ‚Ich mag das aber nicht‘ usw. Seit sie Lukas kennt, sagt sie, kann sie viel besser damit umgehen, weil sie einfach annimmt, wie der Patient ist und ihm Raum gibt. Und die Behandlung läuft seitdem viel besser.

Die wichtigste Erkenntnis für mich im Umgang mit beinahe allen Menschen und Situationen ist: Die Annahme des ‚guten Grundes‘.

Mein Sohn hat immer einen guten Grund aus seiner Sichtweise heraus, warum er eine bestimme Reaktion zeigt usw. Das hilft mir nicht nur beim Umgang mit Lukas, sondern ist DER Schritt auf dem Weg zu einem guten Miteinander und zu einer gelebten echten inklusiven Gesellschaft.

Allen Eltern mit einem besonderen Kind möchte ich sagen: Gebt nie auf!

Nehmt die Dinge, Situationen und Menschen, die nicht zu ändern sind, an, wie sie sind. Und bei allem anderen: Habt Mut! Seid stark! Es ist vieles möglich, dass man sich am Anfang des Weges niemals hätte vorstellen können. Ihr seid nicht allein!


Vielen Dank, liebe Constanze, dass du deine emotionale Geschichte und euren Weg mit uns geteilt hast!

Echte Geschichten protokollieren die geschilderten persönlichen Erfahrungen von Eltern aus unserer Community.

Wir freuen uns auf deine Geschichte!

Hast Du etwas Ähnliches erlebt oder eine ganz andere Geschichte, die Du mit uns und vielen anderen Mamas teilen magst? Dann melde Dich gern! Ganz egal, ob Kinderwunsch, Schwangerschaft oder Mamaleben, besonders schön, ergreifend, traurig, spannend oder ermutigend – ich freue mich auf Deine Nachricht an [email protected]

Wiebke Tegtmeyer

Nordisch bei nature: Als echte Hamburger Deern ist und bleibt diese Stadt für mich die schönste der Welt. Hier lebe ich zusammen mit meinem Mann und unseren beiden Kindern. Nach meinem Bachelor in Medienkultur, einem Volontariat und einigen Jahren Erfahrung als (SEO-)Texterin bin ich passenderweise nach meiner zweiten Elternzeit bei Echte Mamas gelandet. Hier kann ich als SEO-Redakteurin meine Leidenschaft für Texte ausleben, und auch mein Herzensthema Social Media kommt nicht zu kurz. Dabei habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Ernährung von der Schwangerschaft über die Stillzeit bis hin zum Babybrei beschäftigt. Und wenn ihr auf der Suche nach einem Vornamen für euer Baby seid, kann ich euch garantiert passende Vorschläge liefern. Außerdem nutze ich die Bastel-Erfahrungen mit meinen beiden Kindern für einfache DIY-Anleitungen. Wenn der ganz normale Alltags-Wahnsinn als 2-fach Mama mich gerade mal nicht im Griff hat, fotografiere ich gern, gehe meiner Leidenschaft für Konzerte nach oder bin im Volksparkstadion zu finden.

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