Pflegemama Anja: „Wenn beim Abschied keine Tränen mehr fließen, höre ich auf“

Wenn ein Baby in der Babyklappe in Hamburg abgelegt wird oder bei einer anonymen Geburt zur Welt kommt, klingelt bei Anja das Telefon. Seit 15 Jahren ist sie als ehrenamtliche Pflegemutter für SterniPark im Einsatz und hat in dieser Zeit zusammen mit ihrer Familie insgesamt 12 Kinder bei sich aufgenommen. Auch heute noch fließen bei jedem Abschied die Tränen. Denn Anja sieht das Ganze nicht als ‚Job‘, sondern möchte den Kindern einen schönen Start ins Leben ermöglichen – mit ganz viel Liebe und Geborgenheit in einem sicheren Zuhause.

Warum Anja sich dafür entschieden hat, Pflegemutter zu sein, was sie Gegnern der Babyklappe sagt, und welche Botschaft sie für die Mütter und ihre Kinder hat, hat sie uns in ihrer Echten Geschichte erzählt:

„Mein Mann und ich haben selbst vier Kinder. Und als unser jüngstes Kind vier Jahre alt und aus dem Gröbsten raus war, haben wir als Familie gedacht, dass es schön wäre, etwas Ehrenamtliches zu machen. Dabei wollten wir nicht nur Geld für einen guten Zweck nach Afrika spenden, was auch eine super Sache ist! Aber wir wollten unseren Kindern gern zeigen, dass man auch mit körperlichem Einsatz und mit seinem Menschsein etwas Gutes tun kann. Dann haben wir uns etwas umgehört, was es in der Richtung gibt.

Ich hatte eine Kollegin, die früher mal bei SterniPark für das Projekt Findelbaby gearbeitet hat.

Das heißt, sie hat sich als Pflegemutter um Babys gekümmert, die in der Babyklappe abgelegt oder bei anonymen Geburten zur Welt gebracht wurden. Die hat zu mir gesagt ‚Mensch Anja, das wäre doch was für euch, das würde perfekt zu euch passen!‘. Dann habe ich mich informiert, was es genau bedeutet, mich eingelesen und mit den Mitarbeitern getroffen.

Ich muss ehrlich sagen, anfangs war ich mir natürlich nicht ganz so sicher, wie mir das Abgeben der Kinder gelingen würde. Aber wir fanden das Projekt toll und wollten ihm auf jeden Fall eine Chance geben. Also haben wir gesagt, wir probieren es aus. Wir wollten sehen, ob wir es als Familie hinbekommen, und natürlich sollten auch unsere eigenen Kinder nicht darunter leiden.

Dann haben wir das erste Baby bei uns aufgenommen – und sofort Feuer gefangen.

Wir haben uns als Familie direkt in das Projekt und die Aufgabe verliebt und sind dann dabei geblieben.

Dabei habe ich mir vorher wirklich Gedanken gemacht. Ich habe mich immer gefragt, ob ich das Kind so lieben kann wie mein eigenes. Kann ich es so umarmen? Kann es so knuddeln? Kann ich es so küssen? Kann ich wirklich bedingungslos alles von mir geben, wie ich es bei meinen eigenen Kindern auch gemacht habe?

Das war tatsächlich so eine innere Angst von mir. Oder eher gesagt eine Befürchtung, weil ich das wirklich unfair gefunden hätte.

Ich finde, die Kinder haben diese bedingungslose Liebe einfach so verdient.

Das ist ja einfach so elementar wichtig für die Kleinen. Das wollte ich ihnen gerne geben, war mir aber nicht sicher, ob ich es kann.

Deshalb hatte ich da tatsächlich ein bisschen Respekt vor.

Aber dann lag das erste Kind noch im Maxi-Cosi, war noch nicht mal auf meinem Arm – da war das Gefühl schon weg.

Vielleicht kann das auch nicht jeder. Das kann man ja auch niemandem vorwerfen. Aber ich kann es, und wir als Familie können es auch.

Kurz bevor das erste Baby zu uns kam, ist meine jüngste Tochter gerade 5 Jahre alt geworden. Die anderen Kinder waren 7, 9 und 11.

Ich erinnere mich noch genau daran, als der Anruf kam.

Das Baby sollte noch am gleichen Tag aus dem Krankenhaus abgeholt werden und wurde dann abends zu uns gebracht. Ich erinnere mich noch daran, dass ich zu den Kindern gesagt habe, sie sollen sich alle schon mal bettfertig machen, damit sie ihre Schlafanzüge schon an haben. Wir wussten ja nicht, ob ich später noch Zeit dafür haben würde.

Als es klingelte, saßen lustigerweise alle Vier wie die Orgelpfeifen im Schlafanzug auf dem Sofa. Und als sie den Kleinen dann gesehen haben, waren sie alle sofort Feuer und Flamme.

Für meine Kinder war das natürlich auch etwas Besonderes.

Die Größeren haben das schon etwas bewusster wahrgenommen als meine Jüngste mit ihren fünf Jahren. Sie kann sich zwar auch noch an viel erinnern, aber für die Großen ist der Moment auch heute noch viel präsenter.

Wichtig war den Kindern immer, dass sie sich verabschieden können, wenn die Babys wieder gehen. Denn es war und ist ja immer klar, dass sie nur für eine bestimmte Zeit bei uns bleiben.

Wenn ich meine Kleine morgens in die Kita gebracht habe, war ihre größte Sorge, dass das Baby weg ist, wenn sie wieder nach Hause kommt. Ich habe ihr immer versprochen, dass ich sie in so einem Fall früher abhole. Und das habe ich allen meinen Kindern versprochen: Dass sie sich immer verabschieden dürfen.

Auch der erste Abschied ist bei uns allen noch ganz präsent.

Das erste Baby wurde adoptiert, und als die Familie es abgeholt hat, war es für die Kinder sehr viel wert, dass sie die Adoptiveltern so mochten. Es war für sie einfach ein schönes Gefühl, und sie haben sich so gefreut, weil der Kleine dort so willkommen war.

Natürlich haben wir alle viel geweint. Und das machen wir jetzt immer noch, wenn die Kinder wieder ausziehen. Aber es war und ist dann für alle okay.

Das Schöne ist: Der Große wird jetzt im September 15, und meine Kinder haben immer noch Kontakt zu ihm.

Im Laufe der Jahre haben wir bis jetzt 12 Babys bei uns aufgenommen.

Davon kamen vier aus der Babyklappe zu uns und acht von anonymen bzw. vertraulichen Geburten.

Wenn es soweit ist, bekomme ich einen Anruf und werde gefragt, ob wir uns das in den nächsten Wochen vorstellen können, und ob es zeitlich bei uns passt. Die Mitarbeiter*innen vom SterniPark stellen die Kinder dann immer einmal in der Klinik vor. Einige können direkt nach der Untersuchung wieder mitgenommen werden, andere müssen einen oder zwei Tage zur Kontrolle in der Klinik bleiben. Das heißt, sie kommen dann entweder innerhalb von ein paar Stunden schon zu uns, bzw. hole ich sie aus dem Krankenhaus ab. Oder ich fahre in die Klinik, um sie dort zu besuchen, für das erste Bonding und eine enge Begleitung.

Dann kommt unsere Notfall-Starter-Kiste zum Einsatz.

 Und auf dem Weg zur Klinik oder nach Hause fahren wir einmal bei der Drogerie vorbei und holen Windeln und Babynahrung. Das haben wir tatsächlich nicht immer zu Hause, damit es nicht abläuft.

Und dann kommt der Mann abends von der Arbeit, und plötzlich ist ein Familienmitglied mehr da.

Wir besprechen das in der Zwischenzeit natürlich. Und inzwischen ist es auch ein Familienprojekt, weil ich auch wieder ein bisschen arbeite, und meine große Tochter inzwischen schon 25 ist. Wir beschließen das als Familie und managen es auch als Familie. Allein könnte ich das gar nicht schaffen. Wir sind dann also immer einer mehr zu Hause – wie schön ist das?!

Gleichzeitig weiß man natürlich, dass die Kinder nicht ewig bei uns bleiben.

Meistens bleiben die Babyklappen-Kinder ein bisschen länger, weil noch eine Vormundschaft durch das Familiengericht bestellt werden muss. Wenn die Mutter sich entscheidet, ihr Baby zu sich zu nehmen, dann passiert das meistens relativ am Anfang. Die längste Zeit, die ein Baby bei uns war, war vier Monate.

Das war für mich aber auch immer eine Grundvoraussetzung.

Ich konnte das nur machen, als mein eigener Kinderwunsch abgeschlossen war. Für mich war klar, ich möchte kein eigenes Kind mehr großziehen, bis es 18 ist. Ich gebe dem Kind gern ein Zuhause und Liebe, bis es sein endgültiges Zuhause gefunden hat. Aber ich habe nicht den Wunsch, es noch einmal komplett groß zu ziehen. Und das sage ich mir auch immer wieder. Wenn die Kinder dann manchmal so 4 oder 5 Jahre alt sind, und die Eltern erzählen, sie waren heute Laterne basteln, dann denke ich mir, es ist auch ganz schön, hier auf dem Sofa zu sitzen. Jede Zeit hat ihre schönen Seiten.

Es ist auf jeden Fall eine intensive und total schöne Zeit.

Aber es ist auch sehr gut, wenn die Kinder dann ihr endgültiges Zuhause gefunden haben. Dort wurden sie oft schon viele Jahre erwartet und bekommen die volle Aufmerksamkeit. Trotzdem fällt es mir jedes Mal wieder schwer, wenn sie gehen. Aber das ist auch gut so. Denn ich habe immer gesagt, wenn es mich emotional nicht mehr berührt, höre ich damit auf.

Ich möchte niemals, dass es für mich zu einem Job wird.

Es ist und bleibt eine Herzensangelegenheit. Wenn beim Abschied keine Tränen mehr fließen, dann höre ich auf damit. Für mich ist es immer ganz wichtig, dass ich nicht am ersten Tag nach dem Abschied gleich alles wegräume. Babybett, Kinderwagen, ich lasse immer noch ein bisschen was stehen und räume das alles dann nach und nach weg. Das ist mein Abschiedsprozess.

Man findet immer noch mal eine Socke und ein Spucktuch. Irgendetwas schummelt sich über Wochen immer noch zwischen. Irgendwo findet man immer noch etwas.

Erst sind das schmerzhafte Erinnerungen. Dann wird es einfach so ein Schmunzeln.

Jeden Tag tut es ein bisschen weh. Irgendwann, wenn der Blick in den Garten fällt, um zu schauen, ob das Kind im Kinderwagen noch schläft oder nicht, und man dann ins Leere schaut, irgendwann vergeht der Schmerz dann. Dann weiß man, dass man emotional durch ist damit. Dass man es verarbeitet hat. Man freut sich, dass man wieder mehr Paarzeit hat. Und dass man die Nächte wieder durchschlafen kann.

Wir haben das große Glück, dass die neuen Familien uns am Leben der Kinder teilhaben lassen.

Jetzt zum Beispiel habe ich auch gerade ein Video bekommen von der Adoptivmama unseres letzten Kindes. Die Kleine fängt jetzt an, sich zu drehen und zu robben. Das ist einfach so schön! Dann freuen wir uns immer alle sehr, dass wir noch ein bisschen Teil des Lebens der Kinder sein dürfen.

Inzwischen ist es tatsächlich so, als wären wir alle eine riesige Familie.

Ich weiß, dass es immer wieder Kritik an der Babyklappe gibt.

Natürlich kommt das mir gegenüber auch sehr oft zur Sprache. Ich höre dann immer ‚Wie können die Mütter das tun? Was sind das für Rabenmütter?‘, so in die Richtung.

Ich habe ja jetzt mehrere Jahre mit den Frauen gearbeitet und teilweise auch die Babys wieder zu ihren Müttern zurückgegeben. Dabei habe ich dann oft auch die Beweggründe der Frauen gehört. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass keine Frau es sich jemals leicht gemacht hat, ihr Kind abzugeben.

Kein Kind wird aus egoistischen Gründen abgelegt, oder weil ‚es gerade nicht passt‘, davon bin ich überzeugt. Die Mütter geben ihre Kinder im Normalfall aus Liebe ab, weil sie in dem Moment denken, dass sie nicht das Beste für ihr Kind sind.

Man kann sagen, es ist eine Entscheidung aus Liebe.

Wenn eine Frau ihr Kind in der Babyklappe ablegt, heißt das immer, sie hat ihre Schwangerschaft verheimlicht. Die Geburt allein durchgestanden. Sie ist den Weg zur Babyklappe gegangen und hat ihr Kind dort abgelegt. Und trotzdem hat sie mit Milcheinschuss, Wochenfluss und allem anderen zu kämpfen gehabt, ohne ihr Baby bei sich zu haben. Das macht man nicht einfach so. Die Mütter wollten, dass ihre Kinder leben – und ein glückliches Leben führen können.

Es kommt auch immer wieder vor, dass eine Mutter sich doch noch für ihr Kind entscheidet.

Leila Moysich, die Gründerin der Babyklappe, hat gesagt, dass in der ganzen Zeit 16 von 60 Kindern wieder bei ihren leiblichen Müttern sind. Von den von mir betreuten Pflegekindern leben zwei heute bei ihren leiblichen Müttern. Das ist einfach eine schöne Sache, dass die Mütter diese Bedenkzeit haben, und wirklich noch einmal schauen können, ob ihre Entscheidung endgültig sein soll. Denn sehr oft macht der Moment der Geburt mit den Frauen ja auch noch einmal etwas.

Solange man sein Kind noch nicht im Arm gehalten hat, kann man sich das vielleicht alles noch relativ leicht vorstellen. Aber dann fühlt es sich doch noch einmal anders an.

Mutter-Werden und Mutter-Sein ist einfach ein riesiger Unterschied.

Wenn die Kinder Geburtstag haben, denke ich ganz oft an die Mütter. Ich würde ihnen gern sagen, dass es ihren Kindern gut geht. Denn ich bin davon überzeugt, dass eine Mutter an diesem Tag auch jedes Jahr an ihr Kind denkt, auch wenn sie es abgegeben hat. Und ich stelle es mir einfach so schrecklich vor, nicht zu wissen, ob es dem Kind gut geht und ob es gesund ist. Deshalb wünsche ich mir manchmal sehr, dass ich ihnen sagen könnte: ‚Ihr seid keine schlechten Mütter, weil ihr euch so entschieden habt!‘.

Ich ziehe wirklich meinen Hut vor dieser Entscheidung, weil man sie durch sein ganzes Leben trägt. Und das macht etwas mit einem.

Für die Kinder wünsche ich mir, dass sie nie das Gefühl haben, dass sie nicht gewollt waren.

 Oder dass sie Ballast waren. Oder einfach ‚falsch‘ waren. Ich wünsche mir, dass sie nie an sich zweifeln. Da kommen mir direkt die Tränen. Denn ich stelle mir dieses Gefühl so schlimm vor, mich hat einfach jemand da abgelegt und ‚entsorgt‘.

Ich möchte den Kindern sagen, dass ich mir ganz sicher bin, dass ihre Mütter die Entscheidung zu ihrem Wohl getroffen haben. Dass sie wollten, dass es ihnen gut geht. Und dass sie sich in dem Moment sicher waren, dass es ihnen woanders besser gehen wird. Ich bin mir sicher, dass die Mütter wollten, dass ihre Kinder ein möglichst schönes Leben haben.“


Liebe Anja, wie toll, dass es Menschen wie Dich gibt! Vielen Dank, dass du deine bewegende Geschichte mit uns geteilt hast.

Echte Geschichten protokollieren die geschilderten persönlichen Erfahrungen von Eltern aus unserer Community.

Wir freuen uns auf deine Geschichte! 
Hast Du etwas Ähnliches erlebt oder eine ganz andere Geschichte, die Du mit uns und vielen anderen Mamas teilen magst? Dann melde Dich gern! Ganz egal, ob Kinderwunsch, Schwangerschaft oder Mamaleben, besonders schön, ergreifend, traurig, spannend oder ermutigend – ich freue mich auf Deine Nachricht an [email protected]

 

Wiebke Tegtmeyer

Nordisch bei nature: Als echte Hamburger Deern ist und bleibt diese Stadt für mich die schönste der Welt. Hier lebe ich zusammen mit meinem Mann und unseren beiden Kindern. Nach meinem Bachelor in Medienkultur, einem Volontariat und einigen Jahren Erfahrung als (SEO-)Texterin bin ich passenderweise nach meiner zweiten Elternzeit bei Echte Mamas gelandet. Hier kann ich als SEO-Redakteurin meine Leidenschaft für Texte ausleben, und auch mein Herzensthema Social Media kommt nicht zu kurz. Dabei habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema Ernährung von der Schwangerschaft über die Stillzeit bis hin zum Babybrei beschäftigt. Und wenn ihr auf der Suche nach einem Vornamen für euer Baby seid, kann ich euch garantiert passende Vorschläge liefern. Außerdem nutze ich die Bastel-Erfahrungen mit meinen beiden Kindern für einfache DIY-Anleitungen. Wenn der ganz normale Alltags-Wahnsinn als 2-fach Mama mich gerade mal nicht im Griff hat, fotografiere ich gern, gehe meiner Leidenschaft für Konzerte nach oder bin im Volksparkstadion zu finden.

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