„Muss ich einer Adoptivmutter dankbar sein, die mich geschlagen hat?”

Triggerwarnung

Der folgende Text enthält Schilderungen von Gewalt an Kindern. Wenn du dich damit nicht wohl fühlst, solltest du den Text nicht lesen.


„‚Du solltest deiner Adoptivmutter unendlich dankbar sein, dass sie dich aus dem Heim geholt hat. Wie kann man da nur den Kontakt abbrechen?‘

Diesen und viele andere Sätze höre ich oft, wenn ich erzähle, dass ich seit mittlerweile fast neun Jahren keinen Kontakt mehr zu der Frau habe, die mich aus einem armen Land aus dem Heim adoptiert hat. Ich habe mir sehr oft die Frage gestellt, wie dankbar ich meiner Adoptivmutter dafür sein muss.

Was muss ich mir alles gefallen lassen und ab wann ist genug, genug?

Ich war vier Monate alt, als ich aus einem indischen Kinderheim adoptiert wurde. Damals war ich sehr krank, die Ärzte in meinem neuen Heimatland waren sich sicher, dass ich nicht überleben würde. Meine Adoptiveltern gaben alles dafür, dass ich gesund wurde. Ein Arztbesuch jagte den nächsten.

Meine Adoptivmutter hatte unzählige schlaflose Nächte, weil ich stundenlang nur geweint habe. Ich bekam viele Medikamente und wurde langsam gesund. Obwohl ich ein sehr zierliches Mädchen war, entwickelte ich mich sehr gut. Neben mir lebte noch mein Bruder in der Familie. Ihn haben meine Eltern ebenfalls aus Indien adoptiert. Er war immer der Liebling meiner Adoptivmutter.

Meine Kindheit war trotzdem schön.

Als ich aber dann in die Schule ging, begann der Horror. Wenn etwas bei den Hausaufgaben falsch war, gab es anfangs einen Klaps auf die Finger, später dann eine Ohrfeige. Schon bald folgte an den Haaren reißen, mit der Faust ins Gesicht schlagen, in die Hand beißen oder die Hand umdrehen.

Je älter ich wurde, desto schneller, schrecklicher und unbegründeter kam es zu diesen Taten. Bald kam zur körperlichen auch die psychische Gewalt dazu. Bis heute weiß ich nicht, welche von den beiden für mich schlimmer war.

An die Schläge, Tritte, Bisse hatte ich mich erstaunlicher Weise sehr schnell gewöhnt.

Die schrecklichen Sätze, die ich mir aber immer anhören musste, kann ich bis heute nicht vergessen. Sie nagen an meinem Selbstbewusstsein, meiner Selbstliebe und dem Vertrauen zu anderen Menschen. Immer wieder hörte ich Sätze wie, dass ich dick oder hässlich wäre, dass ich und meine leibliche Mutter dumm seien. Dass mir gesagt wurde, dass ich zu oft von der Wickelkommode gefallen wäre, ich wäre ja eigentlich behindert, stand an der Tagesordnung.

Ich wurde oft gefragt, ob denn niemand die körperlichen Misshandlungen bemerkt habe. Meine Mutter war sehr klug in der Hinsicht. Sie wusste genau, wo man nichts sieht bzw. dank meiner dunklen Hautfarbe war das ein Kinderspiel für sie. Einmal hatte ich ein blaues Auge, da durfte ich dann nicht in die Schule gehen.

Ich habe mich oft gefragt, ob ich so undankbar bin, wie meine Adoptivmutter immer behauptete.

Immer wieder habe ich darüber nachgedacht, ob ich alles einfach akzeptieren sollte. Und ich habe mich immer gefragt, ob es normal ist, dass sich mein Adoptivbruder alles erlauben darf ohne jegliche Konsequenzen. So oft hat mich die Frage beschäftigt, wieso ich die Schläge abbekam, obwohl ich ein wirklich braves Kind war und zu allem ‚ja und amen‘ sagte.

Am schlimmsten ist jedoch die quälende Ungewissheit, ob mich meine Adoptivmutter je geliebt hat oder ob ich nur ein Prestige-Baby war, mit dem sie sich selbst in ein gutes Licht rücken wollte.

Seit ich selbst Mutter bin weiß ich, diese Frau hat mich nie geliebt.

Ich würde meinem Sohn so etwas nie antun. Mutterliebe kann doch sowas nicht zulassen. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht ihr leibliches Kind bin. Vielleicht wäre sie bei ihrem Fleisch und Blut nicht so gewesen.

Oft habe ich versucht, mit meiner Mutter ein klärendes Gespräch zu führen. Leider kam von ihrer Seite nie eine Entschuldigung oder irgendeine Art von Einsicht.

Ausschlaggebend für den Kontaktabbruch war die Scheidung meiner Eltern.

Meine Mutter wollte die Ehe nicht mehr und hatte meinen Vater mehrfach betrogen. Trotzdem regte sie sich fürchterlich auf, als sie mitbekam, dass er seiner neuen Freundin etwas geschenkt hatte. Als ich sagte, dass ihr das doch eigentlich ziemlich egal sein könnte, rastete sie aus.

Es folgte ein Wutausbruch auf höchstem Niveau am Telefon, den ich mit dem Auflegen des Handys beendete. Ich schrieb ihr dann noch einen Brief mit allen Dingen, die in der Kindheit passiert sind, Dinge die ich verarbeiten musste und forderte eine Entschuldigung. Sie antwortete nur, ich würde mir das alles ausdenken. Ich sei verlogen, sie hätte mich nie geschlagen.

Zu meinem Adoptivvater hab ich mittlerweile ein sehr gutes Verhältnis.

Er hat nach wie vor ein schlechtes Gewissen, dass er mich damals nie unterstützt und einfach die Augen vor der Realität verschlossen hat. Man muss dazu sagen, dass die beiden eine sehr schlechte Ehe hatten und er die meiste Zeit arbeiten war, um ihr zu entkommen.

Die Beziehung zu meinem Adoptivbruder war leider nie besonders gut. Nach meinem Kontaktabbruch mit unserer Mutter versuchte er noch lange, mich zu überreden, den Kontakt wieder aufzunehmen. Obwohl er damals alles miterlebt hat, hatte er wenig Verständnis für mich.

Inzwischen hat aber auch er nur noch wenig Kontakt zu unserer Adoptivmutter. Das Verhältnis zwischen mir und meinem Bruder hat sich etwas verbessert, seit ich selbst Mama bin.

Heute lebe ich mit meinem Mann, unserem 10 Monate alten Sohn und unseren Hunden in einem kleinen Haus.

Mit meinem Mann bin ich seit sechs Jahren verheiratet. Er kennt meine Geschichte und steht voll hinter mir. Leider hatte ich davor immer nur Partner, die charakterlich meiner Mama sehr ähnlich waren.

Ich wünsche mir für meinen Sohn, dass er in einer harmonischen großen Familie aufwächst, denn ich durfte das leider nicht erleben. Ich kann es als Mama nur besser machen als meine Mama.


Liebe Sarah, vielen Dank für deine Geschichte. Wir wünschen Dir und Deiner Familie alles Liebe für die Zukunft!

Diese Echte Geschichte protokolliert die geschilderten persönlichen Erfahrungen einer Mama aus unserer Community.

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Lena Krause
Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg. Am liebsten erkunde ich mit ihm die vielen grünen Ecken der Stadt. Auch wenn ich selbst keine Mama bin, gehören Babys und Kinder zu meinem Leben dazu. Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert und ich komme als „Tante Lena“ zum Einsatz. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach!

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