„Meine eigene traumatische Kindheit holt mich als Mama wieder ein.”

„Ich möchte meine Geschichte hier nicht erzählen, um Mitleid zu kassieren, das vorweg. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es Mamas gibt, denen es ähnlich geht wie mir und für diese schreibe ich hier.

Meine zweijährige Tochter ist mein ganzer Stolz.

Sie ist ein sehr aktives Kind und zur Zeit noch ziemlich tollpatschig. Wie ihr euch jetzt wahrscheinlich schon denken könnt, fällt sie also oft hin. Meistens ist das gar nicht weiter schlimm, denn sie ist immer ziemlich beschäftigt und lässt sich von solchen kleinen Zwischenfällen nicht aufhalten. Schließlich warten ihre Spielzeuge schon oder sie muss dringend noch eine Runde durch den Raum rennen.

Neulich ist sie bei ihren Kletterübungen vom Sofa gestürzt, bevor ich sie auffangen konnte und das hat dann wohl doch ein bisschen wehgetan. Sie fing an zu weinen und in ihrer ganz eigenen Kindersprache versuchte sie mir aufgeregt zu erklären, was ihr gerade passiert ist. Auch wenn sie noch nicht so viele Worte sprechen kann, mir war klar, sie sagt mir gerade, dass sie einen Schreck bekommen hat.

Instinktiv nahm ich meine Tochter in die Arme und hörte ihr zu.

Als sie sich ein bisschen beruhigt hatte, summte ich ihr ihr Lieblingslied vor, küsste ihr die Tränen weg und schließlich sah sie mich an und lächelte wieder. Ich sprach beruhigend mit ihr und dann war der Schreck schon wieder vergessen und meine Kleine widmete sich wieder ihren Spielzeugen. Eigentlich war alles wieder gut, aber plötzlich traf mich wie aus dem Nichts ein tieftrauriges Gefühl.

Was war los mit mir? Schließlich war das doch eigentlich ein schöner Moment, den ich mit meiner Tochter teilen konnte. Ihr ging es gut, ich konnte ihr helfen. Also woher kam dieses schlechte Gefühl, das so schwer auf meiner Brust lag, dass es mir fast die Luft zum Atmen abschnürte? Dann wurde es mir klar: Es waren die Erinnerungen an meine eigene Kindheit, die mich wieder einholten. Denn ich hatte meinem Kind das gegeben, was ich selbst nie bekommen hatte.

Plötzlich holten mich längst vergessene Bilder wieder ein.

Genau wie meine Tochter war auch ich ein bisschen tollpatschig als Kind und stürzte oft. Außerdem war ich ein Kind, das seine Gefühle zeigt und diese auch mitteilen möchte. Wenn ich mir wehtat, dann weinte ich also oft oder sagte ‚aua‘, aber von meinen Eltern kam nie eine fürsorgliche Antwort – ganz im Gegenteil.

‚Du stellst dich auch immer an!‘, ‚Sei doch nicht so empfindlich‘ oder ‚Hör endlich auf zu heulen oder ich gebe dir gleich einen Grund dazu!‘ waren die typischen Antworten meiner Eltern, wenn ich Schmerzen empfand. Sie nannten mich außerdem ‚Heulsuse‘, verdrehten die Augen und lachten über mich und meine ‚Zimperlichkeit‘.

Ich erinnere mich nicht daran, dass sie mich jemals in den Arm genommen oder mit Worten getröstet hätten.

Also versuchte ich oft, meine Tränen zu unterdrücken, was natürlich nicht immer klappte und mir gleich wieder gehässige Kommentare meiner Eltern einbrachte. Eines Tages beobachtete ich, dass meine Schwester von der Schaukel fiel. Mein Vater rannte zu ihr und nahm sie in den Arm. Plötzlich fiel mir auf, dass er sich über sie nie lustig machte, wenn sie sich wehtat oder Trost brauchte. Zu diesem Zeitpunkt war ich fünf Jahre alt und konnte mir einfach nicht erklären, warum mein Vater meine Schwester anders behandelt als mich.

Für mich fühlte es sich in diesem Moment so an, als würde er mich einfach weniger lieben. Liebten meine Eltern mich überhaupt? Ich begann zu weinen und fragte meinen Vater, warum er meine Schwester nicht ‚Heulsuse‘ genannt hat, wie er bei mir immer macht. Er schaute nur verdutzt und schnauzte mich dann an, dass ich mich nicht so dumm aufführen soll. Als ich zu meiner Mutter lief, um ihr davon zu erzählen, lachte sie mich aus und meinte, dass ich mal wieder überreagiere.

Am Ende sollte ich mich bei meinem Vater entschuldigen, weil ich ‚so ein Drama‘ gemacht habe.

Die Erinnerung an diese Demütigungen in meiner Kindheit war so intensiv, dass es mich völlig einnahm. Ich war gar nicht mehr in der Lage, den schönen Moment mit meiner Tochter wertzuschätzen. Immer mehr Erinnerungen kamen plötzlich in mir hoch. Einmal war ich in der Schule vom Klettergerüst gestürzt und hatte mir dabei den Fußknöchel verstaucht. Ich konnte den Fuß zwar noch bewegen, aber es tat höllisch weh. Verstauchungen kannte ich nicht, also ging ich davon aus, dass ich mir was gebrochen hätte.

Meine Mutter lachte mich dann dafür aus, das ich glaubte, dass es ein Bruch wäre. Sie meinte, ich soll mich nicht immer so aufspielen. Sie fuhr auch nicht zu einem Arzt, sondern zerschnitt einfach eine alte Socke, die ich mir um das Fußgelenk binden sollte und das war’s dann. Ein paar Tage später knickte ich beim Spielen um und mein Knöchel tat wieder unglaublich weh. Ich rannte zu meinen Eltern ins Wohnzimmer und ließ mich auf den Teppich fallen, weil ich einfach nicht mehr auftreten konnte. Meine Eltern fingen lauthals an zu lachen.

Sie konnte sich gar nicht mehr einkriegen, sogar als ich ihnen unter Tränen erzählte, was los war.

Auch Jahre später erzählten sie diese Geschichte immer noch gerne als lustige Anekdote. Am meisten Spaß hatten sie daran, entwürdigende Vergleiche zu ziehen. So meinten sie mal, dass ich auf dem Teppich ausgesehen hätte, ‚wie ein Ferkel, das sich im Dreck suhlt‘. Ich hatte all diese schmerzhaften Erinnerungen so lange verdrängt und plötzlich waren sie wieder da, holten mich wieder ein.

Ich sprach dann mit meinem Mann darüber und das war eine große Erleichterung für mich. Er stimmte mir zu, dass meine Eltern grausam zu mir waren. Niemals könnte er sich vorstellen, sich so gegenüber unserer kleinen Tochter zu verhalten. Durch sein Mitgefühl schaffte ich es, die Situation mehr aus der Außenperspektive wahrzunehmen.

Ja, es stimmt. Meine Eltern haben Fehler gemacht, als ich klein war.

Aber ist es nicht wunderschön, dass ich nun all die Liebe, die ich als Kind mit meinen Eltern nicht leben konnte, meiner Kleinen geben kann? Natürlich wäre ich froh, wenn mich die traurigen Erinnerungen an meine Kindheit nicht mehr verfolgen würden. Aber sie zeigen mir auch, dass ich den Kreislauf durchbreche. Denn diese traumatischen Flashbacks tauchen immer dann auf, wenn ich es anders mache als meine Eltern früher mit mir.

Ich arbeite deswegen daran, mir bewusst zu machen, dass es nur Erinnerungen sind. Inzwischen bin ich nicht mehr das kleine Mädchen, das sich von seinen Eltern ungeliebt fühlt. Statt in der Vergangenheit zu leben und immer wieder die tiefe Trauer aus meiner Kindheit zu spüren, versuche ich mittlerweile das wahrzunehmen, was hier und heute passiert.

Denn die Gegenwart sieht so aus, dass ich eine wundervolle, kleine Tochter habe.

Die weiß, dass ich immer für sie da sein werde, die sich von mir geliebt fühlt. Natürlich werde auch ich als Mama Fehler machen, aber ich habe mir geschworen, dass meine Tochter nie ernsthaft infrage stellen muss, dass ich sie liebe.“

 


 

Vielen Dank, liebe Mama (Name ist der Redaktion bekannt), dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast. Wir wünschen dir und deiner Familie alles Liebe für die Zukunft!

WIR FREUEN UNS AUF DEINE GESCHICHTE!
Hast Du etwas Ähnliches erlebt oder eine ganz andere Geschichte, die Du mit uns und vielen anderen Mamas teilen magst? Dann melde Dich gern! Ganz egal, ob Kinderwunsch, Schwangerschaft oder Mamaleben, besonders schön, ergreifend, traurig, spannend oder ermutigend – ich freue mich auf Deine Nachricht an [email protected].

Lena Krause
Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg und übe mich als Patentante (des süßesten kleinen Mädchens der Welt, versteht sich). Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach! Bevor ich bei Echte Mamas gelandet bin, habe ich Literatur und Medienwissenschaften studiert und nebenbei in einer Agentur als Texterin gearbeitet. Danach habe ich im Lokaljournalismus angefangen und sogar mit meinem Team den „Vor-Ort-NRW-Preis” gewonnen. Die große Nähe zu Menschen und Lebensrealitäten habe ich dort lieben gelernt und das lasse ich jetzt in unsere Echten Geschichten einfließen. Die sind mir nämlich eine Herzensangelegenheit, genauso wie die Themen Vereinbarkeit, Female Empowerment und Psychologie.

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2 Comments
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Monique
Monique
15 Tage zuvor

Ich erlebe mit meinen 4jährigen Zwillingen auch immer und immer wieder dieses alte Gefühl. Hab auch Flashbacks.
Ich strebe nun eine Traumatherapie an.

Ina
Ina
2 Jahre zuvor

ich erlebe grade ähnliches, durch meine kleine tochter! 🥰 bitte stell dich nicht infrage, wir waren auch wundervolle kleine kinder, die mit liebe im leben bestimmt woanders wären. es ist nicht unsere schuld! unsere mütter wussten es leider nicht besser… bleib stark und ganz viel liebe wünschenich dir!!