Da müssen alle Eltern durch: Die Trotzphase, die jedes Kleinkind in ein kleines Wutmonster verwandelt. Bei diesem Thema weiß ich genau, wovon ich spreche, denn bei meiner Tochter fing sie schon mit eineinhalb Jahren an. Da wurde plötzlich wütend auf den Boden gestampft, geschrien und mit Dingen geworfen, wenn ich etwas „falsch“ machte. Und irgendwie war fast alles falsch. Mein Kind war völlig außer Rand und Band!
Am Anfang war das Ganze irgendwie noch niedlich, doch schon bald wurden die Zornesausbrüche richtig heftig, laut und ausdauernd. Nichts schien meiner Tochter zu passen. Jeden Morgen vor dem Kindergarten gab es Dramen und sobald sie mir am frühen Nachmittag von der Erzieherin zurück übergeben wurde, ging es noch in der Garderobe weiter. Nichts half! Es war egal, ob ich sanft und einfühlsam auf sie zuging oder sachlich blieb und ihr klare Anweisungen gab, ob ich streng und manchmal laut wurde oder einfach still in ihrer Nähe wartete – sie wütete und verweigerte jegliche Kooperation.
Ich habe in meiner Verzweiflung viel gelesen, um Hilfe und Erziehungstipps zu finden und mich zu vergewissern, dass das wirklich ganz normal ist. Am besten nachvollziehen konnte ich dabei immer die Tipps, die mir die Perspektive meines Kindes zu verdeutlichen versuchten. Ich lernte dadurch, unseren Alltag mehr durch die Augen meiner Tochter wahrzunehmen. So konnte ich ihr emphatischer und geduldiger begegnen. Das ließ ihre Wutanfälle zwar nicht seltener werden, aber es half mir, mich nicht mehr so schnell davon anstecken und auslaugen zu lassen.
Meine Rolle als Mutter ist es schließlich, ihr Hafen zu sein, in dem sie sein kann wie sie ist, in dem sie sich sicher fühlt und sich fallen lassen kann. In der Trotzphase bedeutet das auch, dass sie bei mir ihren Frust rauslassen kann, der im sozialen Gefüge des Kindergartens keinen Platz hat. Eben, dass es kein Problem ist, wenn sie mal außer Rand und Band ist. Und dass sie bei mir durchatmen und neue Kraft tanken kann, denn der Alltag eines Kindergartenkindes ist mit all seinen Regeln und dem täglichen Dazulernen einfach anstrengend, auch wenn jeden Tag viele tolle Dinge passieren.
„Schuld“ ist das Gehirn, das noch in der Entwicklung steckt
Diese Herangehensweise fand ich neulich wieder in einem Ratgeberartikel bestätigt. Dort beschreibt der amerikanische Autor und Psychiatrie Professor Dr. Daniel Siegel in einem wunderbar nachvollziehbaren Bild, dass Kinder diese Phase gar nicht ohne Wutanfälle meistern können, weil ihr Gehirn einfach noch nicht so weit ist. Das Bild sieht folgendermaßen aus:
Umschließe deinen Daumen mit den Fingern zu einer Faust und stelle sie dir als ein Gehirn vor. Der versteckte Daumen im Innern der Faust steht für die Amygdala, ein Bereich im Gehirn, der für die emotionale Bewertung von Situationen sowie für das Erkennen von Gefahren zuständig ist. Es sorgt dafür, dass wir bei einer Bedrohung fliehen oder angreifen. Die Finger außen sind das rationale Frontalhirn, fachlich ausgedrückt der präfrontale Cortex, der uns bei mäßiger Gefahr oder Frust besonnen und angemessen reagieren lässt.
Wenn wir jedoch einmal richtig „ausrasten“ oder in Panik geraten, dann passiert bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen folgendes: Die Finger spreizen sich sozusagen vom Daumen ab oder anders gesagt, die Verbindung zwischen rationalem und emotionalem Teil des Gehirns wird gelöst. So hat der Frontalcortex keine Kontrolle mehr über die von der Amygdala ausgelösten, instinktgetriebenen Reaktionen.
Bei kleinen Kindern besteht die Verbindung zwischen rationalem und emotionalem Teil noch gar nicht. Das Frontalhirn entwickelt sich nämlich erst im Alter von fünf bis sieben Jahren entsprechend. Erst dann lernen Kinder, Kontrolle über emotionale Impulse zu gewinnen und ihre Gefühle ohne Wutanfall zu benennen. Deswegen reagieren Kleinkinder und auch jüngere Schulkinder auf vermeintliche Kleinigkeiten permanent mit wahren Gefühlsausbrüchen: Ihr Gehirn sendet Alarmsignale, es ist gestresst, überreizt, außer Kontrolle.
Dieses Wissen half und hilft mir sehr und ich konnte schließlich mit viel Geduld und Ausprobiererei selbst ein paar Wege finden, die meiner Tochter (und uns als Eltern) in besonders trotzigen Zeiten geholfen haben.
Diese drei Punkte haben wieder mehr Harmonie in unseren Alltag gebracht:
1. Verständnis
Allein das Wissen um all das, was in dem kleinen Kopf meiner Tochter vor sich geht, half mir dabei, alles etwas entspannter zu sehen und mich nicht anstecken zu lassen, wenn sie mal wieder außer Rand und Band war oder die Wutanfälle gar persönlich zu nehmen. Meine geänderte Einstellung hat sich gefühlt auch ein wenig auf meine Tochter übertragen, denn sie spürte, dass sie bei mir nicht mehr so stark auf Widerstand stößt, sondern auf Verständnis.
Das heißt nicht, dass ich ihr bei jedem Geschrei alles erlaubte, damit sie wieder ruhig ist, sondern dass ich sie spüren ließ, dass ich für sie da bin, auch und gerade wenn sie erschöpft, schlecht drauf oder richtig wütend ist und ihr schon die kleinste Kleinigkeit zu viel ist. Je ruhiger ich blieb, desto schneller legte sich der Orkan in ihrem Kopf und desto schneller fanden wir danach auch wieder zueinander.
2. Geregelter Tagesablauf
Es hat lange gedauert, aber als ich es endlich herausfand, war es ein echter Durchbruch: Meine Tochter kommt viel entspannter und ruhiger durch den Tag, wenn sie möglichst genau weiß, was auf sie zukommt.
Ich habe daraufhin unser Abendritual angepasst, was nun wirklich immer exakt gleich aussieht. Außerdem gebe ihr inzwischen bei allem, was wir vor haben, einen kleinen Ausblick darauf, was sie erwartet. Selbst bei Sachen, die immer gleich ablaufen, etwa dass ich sie nach ihrem Mittagessen im Kindergarten abhole, oder dass es in einer halben Stunden Abendessen gibt.
Wenn besondere Termine anstehen wie zum Beispiel ein Kindergeburtstag, ein Arzttermin oder ein Ausflug, dann lasse ich sie wissen, wer dort sein wird und wie der Ablauf sein wird. Sie kann sich dann innerlich darauf einstellen und muss keine Überraschungen befürchten, die ihre Amygdala in Aufregung versetzen könnten.
3. Ruhezeiten
Meine Tochter ist ein sehr unternehmungsfreudiges Kind. Sie geht gern in den Kindergarten, trifft sich gern mit ihren Freunden zum Spielen, geht einmal in der Woche zum Ballettunterricht und lernt gerade auch noch schwimmen. Doch auch Termine, die Spaß machen, sind anstrengend für so einen kleinen Menschen. Immer ist da etwas zu beachten, sind Regeln und Zeiten einzuhalten, muss Rücksicht auf andere genommen werden…
Deswegen versuche ich, immer wieder Auszeiten zu schaffen, in denen sie möglichst wenig Außenreize bekommt, in denen sie allein die Kontrolle hat, ihre Zeit selber einteilt und sich auf niemand anderen einstellen oder Rücksicht nehmen muss. Diese Zeiten genießt und braucht sie genau so wie den Trubel.
Nach einer kurzen Langeweilephase zieht sie sich an solchen Nachmittagen irgendwann in ihr Zimmer zurück, legt ihr Lieblingshörspiel ein, bastelt mit Bügelperlen, malt oder kramt in ihren „Schatzkisten“ voller Krimskrams. Ich liebe es, wenn ich sie dann in ihrem Zimmer ein Liedchen summen oder mit ihren Puppen sprechen höre. Das ist ihre Zeit, in der sie ganz bei sich ist und ihr Gehirn zur Ruhe kommt.
Irgendwas ist ja immer 😉
Die Trotzphase haben wir inzwischen hinter uns gelassen, nun steht die sogenannte „Wackelzahnpubertät“ an. Neue Phase, neuer Name – aber irgendwie doch dasselbe Spiel. Zum Glück kenne ich die Spielregeln inzwischen ein wenig besser und bin deshalb ganz zuversichtlich, dass wir da ohne größere Krisen gemeinsam hindurch navigieren werden.