Unzählige Kinder gehen in die Krippe oder Kita. Und fast genauso viele Eltern haben ein schlechtes Gewissen: Ist es okay, dass ihr Baby oder Kleinkind viele Stunden am Tag von anderen betreut wird? Oder braucht es in den ersten Lebensjahren den ganzen Tag Mama und/oder Papa um sich? Gar nicht selten wird das schlechte Gewissen auch von anderen angestachelt. Ich selbst kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie mir innerhalb der Familie prophezeit wurde, wie sehr ich es bereuen würde, dass ich meine Tochter mit einem Jahr in die Betreuung gegeben hatte. Wunderbar: Ich musste wieder arbeiten – und das schlechte Gewissen saß so jeden Tag mit mir am Schreibtisch.
Inzwischen ist meine Tochter fast zehn Jahre alt – trotzdem habe ich immer noch ein leicht komisches Gefühl im Bauch, wenn ich Berichte darüber lese, was für ein Stress es doch für die Kleinsten sei, in die Fremdbetreuung zu gehen. Zum Glück bin ich im Internet über Nikolai Hebben gestolpert. Der 45jährige ist Vater einer 7jährigen Tochter, gelernter Bauschreiner und seit 2019 Kindertagespflegeperson/Tagesvater in Iserlohn in NRW. Und Nikolai hat meine Sicht aufs Thema Kinderbetreuung tatsächlich ein wenig verändert.
Aber lest doch mal selbst, ich habe ihm einige Fragen zum Thema gestellt:
Immer wieder wird leise oder auch laute Kritik laut, wenn Kinder in die „Fremdbreteuung“ gegeben werden, weil die Eltern (besonders Mütter) z.B. arbeiten gehen wollen oder müssen. Warum lehnst Du diesen Begriff ab?
Nikolai: Der Ausdruck „Fremdbetreuung“ an sich ist bereits stigmatisierend, denn er suggeriert, dass Eltern ihr Kind einfach jemand völlig Fremden ihr Kind übergeben, damit dieser die Aufgaben übernimmt, die eigentlich ausschließlich von Mutter und Vater, vielleicht noch von Familienmitgliedern wie Oma und Opa wahrgenommen werden dürften. Nun sind wir Kindertagespflegepersonen, KinderpflegerInnen und ErzieherInnen jedoch keine Fremden! Die Eltern haben uns zum einen im Vorfeld gezielt nach Person, Konzept, örtlichen Gegebenheiten und Qualifikation ausgesucht. Haben uns in Erstgesprächen kennengelernt und sich für uns entschieden.
Und umgekehrt, auch wir haben die Entscheidung für die Zusammenarbeit mit diesen Eltern und die Betreuung ihrer Kinder getroffen. Zum anderen wurden uns die Kinder, die wir betreuen, nicht einfach durch die Tür gereicht. Heute findet im Regelfall eine professionelle Eingewöhnung statt, die Kinder kommen in Begleitung der Eltern in unsere Räumlichkeiten. Hier versuchen wir behutsam zu den Kindern eine Bindung aufzubauen, Mutter oder Vater bleiben stets als sichere Insel in der Nähe, beobachten und geben dem Kind Selbstvertrauen. Das Kind bekommt die notwendige Zeit, uns kennenzulernen und anzunehmen, es herrscht kein Zwang oder Drängeln vor. Ist erstes Vertrauen aufgebaut finden erste, kurze Trennungen vom Elternteil statt, die nach und nach zeitlich ausgedehnt werden, bis das Kind durch sein Verhalten signalisiert, dass es ohne die Eltern in der Betreuung sein kann und möchte. In diesem Prozess wurden wir zur Vertrauensperson, zur Bezugsperson für das Kind, wir sind auch für dieses keine Fremden mehr.
Auch ist es ein Trugschluss, dass es alleinige Aufhabe der Eltern oder Familienmitglieder ist, für die Kinder zu sorgen. Dieses Bild ergibt sich auch in Europa erst seit ca. 270 Jahren, mit Beginn der industriellen Revolution. Vorher dominierte eine Realität, für welche es ein afrikanisches Sprichwort gibt: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Die Gemeinschaft, ja, die gesamte Gesellschaft trägt die Verantwortung für unsere Kinder. Nicht nur die Eltern und schon gar nicht alleine die Mutter. Diese matrifokale Sicht halte ich für ein patriarchales Konstrukt, um Frauen in der Gesellschaft und Männer in der Familie zu limitieren.
Heißt das, ein schlechtes Gewissen ist gar nicht nötig?
Als meine Tochter geboren wurde, durfte ich dabei sein, mich in der ersten Woche um Kind und Mutter kümmern, denn mein Arbeitgeber gestand mir einen flexibel gestaltbaren Urlaub zu. Danach musste ich sieben Wochen wieder voll arbeiten gehen, Frau und Kind alleine lassen. Niemand fragte, ob ich ein schlechtes Gewissen hätte. Nach Ende des Mutterschutzes ging nun meine Frau wieder arbeiten und ich ging ein Jahr in Elternzeit. Und ihr wurde dann die Frage gestellt, wie sie dies bloß tun könne, ihr Kind alleine zu lassen, obwohl es ja bei mir, dem Vater war. Als wenn ich weniger dazu in der Lage wäre, unsere Tochter angemessen zu versorgen. Dem war nicht so. Ich fütterte mein Kind mit abgepumpter Muttermilch, wechselte ihre Windeln und wusch sie, gab ihr Liebe, Nähe und Wärme, legte sie schlafen und erfüllte jedes ihrer Bedürfnisse. Und, oh Wunder, heuten ist sie ein tolles, siebenjähriges Mädchen, gesund, selbstbewusst, emphatisch und clever. An ihr ist nichts verkehrt, keine Auffälligkeit, kein Schaden, obwohl ihre Mutter in der Woche an 5 Tagen je 8 Stunden arbeiten ging und 6 Nächte nicht neben ihr schlief. Wozu also hätte sie ein schlechtes Gewissen haben sollen? Wenn ein Kind in fähigen, liebevollen Händen einer Bezugsperson betreut wird, brauchen die Eltern keinerlei schlechtes Gewissen zu haben, noch darf es ihnen eingeredet werden. Dabei ist egal, ob diese Person blutsverwandt ist oder nicht.
Andersherum gefragt: Was sind vielleicht sogar Vorteile für Kinder daran, zu Tageseltern, in die Kita etc zu gehen?
Kindertagespflegepersonen, KinderpflegerInnen und ErzieherInnen haben den Eltern gegenüber einen signifikanten Vorteil: Wir müssen uns während unserer Arbeitszeit um nichts anderes kümmern, als um das Kind. Keine Rechnungen oder Steuererklärungen, keine Reparaturen oder Handwerksaufträge, keine Beziehungsarbeit mit den PatnerInnen, keine weitreichende Körperpflege oder Me-Time. Eltern müssen all diese Dinge mit der Carework unter einen Hut bringen, wir müssen das nicht, im Regelfall gehört unsere ganze Zeit den Kindern. Auch sind unsere Räumlichkeiten auf die Kinder zugeschnitten, hier werden sie viel weniger durch Verbotenes oder gar Gefährliches limitiert, sie können sich viel freier und in sicherer Umgebung entwickeln. Zudem sind wir qualifiziert, ausgebildet und erfahren darin, Kinder zu pflegen, zu erziehen und zu bilden. Es ist unser Beruf.
Noch wichtiger: Hier haben Kinder Kontakt zu vielen Gleichaltrigen. Sie können von klein auf ihre Sozialkompetenzen entwickeln, sich andere Kinder zum Vorbild nehmen oder sogar für diese in begrenztem Rahmen Verantwortung übernehmen. Mit uns als Bezugspersonen fehlt ihnen nicht nur nichts, sie erhalten eine ganze Menge Mehrwert.
Ab welchem Alter ist es Deiner Meinung nach okay, ein Kind in die Krippe o.ä. zugeben? Ohne die Eltern zu verurteilen: gibt es da eine Grenze, vor der es Deiner Erfahrung nach zu früh sein könnte?
Meine Tochter war acht Wochen alt, als ich als Vater ihre Betreuung übernahm. Meine aktuell jüngsten Tageskinder waren 8 Monate, als sie zu mir kamen, im August werde ich ein 4 Monate altes Kind in Betreuung nehmen. Verurteilen werde ich niemals ein Elternteil, welches sein Kind zu mir in die Betreuung gibt, denn es ist ja mein Beruf und meine Berufung, ihm den bestmöglichen Start ins Leben zu geben. Tatsächlich denke ich nicht, dass es für das Kind selbst eine Altersgrenze gibt, es muss gesund und fähig sein, aus der Flasche zu trinken, also in der Betreuung ohne die Brust der Mutter auskommen. So lange in der Betreuung gewährleistet ist, dass das Kind die nötige Aufmerksamkeit, Nähe und Körperkontakt bekommt, gibt es kein zu früh. Tatsächlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kinder vor dem ersten Lebensjahr, vor der Fremdelphase viel besser in die Betreuung finden, als später. Die wichtigere Faktoren sind die Betreuer, die sich zutrauen müssen, Kinder ihres Alters entsprechend zu versorgen und letztlich die Eltern, die sich zutrauen, sich von ihren Kindern zu trennen.
Wie läuft eine Eingewöhnung ab? Und wie können Eltern dabei am besten helfen?
Es gibt verschiedene Eingewöhnungsmodelle, ich persönlich bevorzuge das Berliner Modell. Wie bereits beschrieben kommt das Kind mit einem Elternteil in meine Räumlichkeiten. Der Elternteil verhält sich dabei passiv und bietet dem Kind eine sichere Insel, von der aus es sich mehr und mehr in den Alltag der Kindertagespflege lösen kann. Als Kindertagespflegeperson biete ich mich dem Kind als Stütze an, baue behutsam Vertrauen und Bindung auf und erfrage jeden Schritt, den ich mit ihm mache mit Worten und Gestik, alles für eine begrenzte Zahl an Stunden. Wenn das Kind sich vom Elternteil löst und mehr und mehr mir zuwendet, versuchen wir die erste Trennung. Dabei schicke ich Mutter oder Vater z.B. auf die Toilette. Das Elternteil gibt dem Kind ausdrücklich Bescheid, kein heimliches Verschwinden oder so, es muss wissen, dass es kurz ohne Eltern bei mir ist. In diesem Moment gebe ich dem Kind Sicherheit und Nähe, versuche Trost zu spenden und die Angst vor der Trennung zu nehmen, bis der Elternteil zurück ist. Diese Schritte werden wiederholt, die Dauer behutsam ausgedehnt, bis das Kind gänzlich ohne elterliche Begleitung auskommt. Eltern helfen Kind und Kindertagespflegeperson am besten, indem sie beiden ihr Vertrauen schenken, in den Hintergrund treten und nur dann eingreifen, wenn das Kind ausdrücklich ihre Nähe sucht. Zweifel oder Trennungsängste spüren die Kleinen mit ihren feinen Sinnen für die Gefühle ihrer Eltern sofort und übernehmen sie. Nur wenn die Eltern sich trennen können, wird es später auch ihrem Kind gelingen.
Anmerkung der Redaktion: Hier findest du Tipps, die deinem Kind die Eingewöhnung ein wenig leichter machen können.
Und was mich bei einigen besonders tollen Betreuungspersonen im Laufe des Lebens meiner jetzt Neunjährigen gefragt habe: Wie fühlt es sich an, die Kinder irgendwann gehen zu lassen, weil diese der nächste Schritt (z.B. Schule) erwartet? Wenn man sich so nah ist, tut das auch weh, oder lernt man, es doch professionell zu nehmen?
Wer mit Menschen arbeitet, wird diese oft lieb gewinnen, bei aller Professionalität. Für uns, die wir uns den Kindern verschrieben haben kommt noch erschwerend hinzu, dass diese uns meist ebenfalls Zuneigung entgegenbringen. Ich werde morgens zur Begrüßung angestrahlt und umarmt, die Kinder kommen zu mir um Trost, Mut oder Hilfe zu bekommen, schlafen in meinen Armen ein. Mein Name gehört zu den ersten Wörtern, die sie sprechen lernen, ich begleite sie durch einen wichtigen Teil ihres Lebens und erlebe so viele Entwicklungsschritte mit. Und dann gehen sie. Und ich muss dafür Sorge tragen, dass sie gerne gehen, sich einfach von mir lösen, um ein neues Abenteuer zu beginnen. Natürlich tut es ein Stück weit weh, natürlich habe auch ich großer starker Mann schon mehr als eine Träne vergossen. Aber das gehört dazu. Auch übrigens, dass mich meine Schützlinge ab und an besuchen kommen, besonders, wenn ihre jüngeren Geschwister ebenfalls von mir betreut werden.

Nikolai Hebben Foto: privat
Lieber Nikolai, ich danke dir sehr für deine ausführlichen Antworten. Ich denke, dass sie vielen Eltern ihre Herzen ein bisschen leichter gemacht haben!
Mehr über Nikolai und seine Arbeit erfahrt ihr unter auf der Website seiner Kindertagespflege.