Was als unbeschwerter Familienausflug ins Schwimmbad begann, wurde für Jenny zu einem traumatischen Wendepunkt in ihrer Kindheit. Mit nur neun Jahren rettete sie ihrer kleinen Schwester das Leben – in einem Moment, der alles veränderte. Nicht nur das dramatische Geschehen unter Wasser, sondern auch das Verhalten ihres Vaters hinterließen tiefe Spuren. Bis heute begleitet sie die Erinnerung – und die Erkenntnis, wie leise Ertrinken wirklich geschieht.
„Ertrinken geschieht leise. Ein riesiger Brocken Wahrheit.
Ich bin Jenny, heute 35 Jahre alt. Als es passiert ist, war ich etwa neun, meine Schwester ungefähr viereinhalb.
Wir waren mit unserem Vater im Hallenbad.
Unsere Mutter war kurz auf Toilette. Ich stand da, als meine Schwester fragte: ‚Papa, darf ich vom Einer springen?‘ Er sagte: ‚Klar, zieh die Schwimmflügel aus.‘ Und sie sprang.
Ich sah zu, wie sie unterging. Schnell wie ein Stein, aber von der Bewegung her auch wie ein Blatt im Wind. Ich stand da – irgendwie fasziniert und erschrocken – und dachte erst: ‚Sie taucht gleich wieder auf.‘ Aber sie kam nicht hoch. Und plötzlich wurde aus diesem Gedanken ein: ‚Hilfe, sie geht unter.‘ Ich hatte das Gefühl, ich habe zu langsam begriffen, was da gerade passiert.
Ich sagte zu meinem Vater: ‚Sie schafft es nicht.‘
Doch er hielt mich fest. ‚Wehe du schreist. Wehe du hilfst.‘ Ich biss ihm in die Hand, riss mich los, rannte los, rutschte aus – und sprang ins Wasser.
Ich wusste: Ich habe keine zweite Chance. Ich habe keine zweite Luft. Ich muss sie jetzt holen. Ich tauchte immer tiefer, gegen meine eigene Kraft, gegen meine Erschöpfung. Ich weiß nicht, was ich gegriffen habe – einen Arm, ein Fuß, ein Handgelenk – aber ich habe gezogen.
Wir kamen nach oben.
Meine Schwester war bei Bewusstsein. Sie konnte sich halten. Ich weiß bis heute nicht, wie wir an den Beckenrand gekommen sind. Aber wir haben es geschafft.
Das erste, was sie zu mir sagte, war: ‚Du hast mich zu fest gehalten, das tat weh.‘ Und ich habe gesagt: ‚Halt die Klappe und halt dich fest.‘ Heute machen wir manchmal dumme Witze darüber. So was wie: ‚Wenn du mich damals nicht gerettet hättest, müsste ich mich heute nicht mit diesen Problemen rumschlagen.‘ Aber das ist eher Ironie und Sarkasmus.
Ich brauche dafür keine Dankbarkeit.
Es sollte selbstverständlich sein. Wir haben uns, glaube ich, beide entschuldigt. Ich bei ihr dafür, dass ich zu grob war. Und sie bei mir, weil sie die Situation erst langsam verstanden hat.
Danach war es einfach ein Puzzlestück unseres Lebens. Wir haben viele davon. Es spielt keine Hauptrolle mehr, aber es ist da.
Ich konnte danach nie wieder richtig tauchen.
Nicht einmal den Kopf unter Wasser halten, wenn es nicht sein musste. Einmal, viele Jahre später, bin ich die Strecke noch einmal abgetaucht – um zu verstehen, warum die Luft damals nicht gereicht hat. Es war gar nicht tief. Aber als Kind war es unendlich.
Mein geliebtes Springen vom Turm – das war danach gestorben. Heute gehe ich nie ohne Schwimmhilfe in tiefe Seen, obwohl ich schwimmen kann. Ich brauche immer etwas, woran ich mich festhalten kann. Etwas, das mir die Sicherheit gibt: Ich schaffe es zurück. Ich weiß – auch gute Schwimmer sind nie hundert Prozent sicher im Wasser.
Verändert hat sich damals für mich äußerlich nicht viel.
Unsere Mutter war auf der Toilette, sie konnte nichts dafür – das wusste ich von Anfang an. Aber wir durften danach nicht mehr alleine zur Toilette gehen. Wir mussten immer mit Mama.
Von meinem Vater kam kein Dank, keine Anerkennung. Es gab Ärger. Und ehrlich gesagt: Für meinen Vater habe ich wenig Empfindungen übrig. Mein Vertrauen in ihn war danach nachhaltig erschüttert.
Mit 16 habe ich den Kontakt abgebrochen.
Er hatte sich mein Erspartes unter den Nagel gerissen. Aber das war nicht das Einzige, was er sich geleistet hat. Es ist so viel passiert. Manchmal denke ich, darüber nach, ihm eine zweite Chance zu geben – zu hören, wie er die Dinge sieht. Aber es ist so viel Zeit vergangen. Vielleicht lohnt es sich nicht, alte Wunden aufzureißen.
Ob mir damals jemand zugehört hat, ob mir jemand geglaubt hat? Schwer zu sagen. Ich kann nicht behaupten, dass meine Mama nicht da war oder nie zugehört hat. Aber ich erinnere mich nicht, dass wir je richtig darüber gesprochen hätten. Es war einfach so.
Warum ich diese Geschichte heute erzähle?
Weil sie lange in mir geschlummert hat. Aber seit ich eure Beiträge zum Thema Ertrinken lese, läuft es mir heiß und kalt über den Rücken. Es ist, als würde ein altes Trauma aufblitzen.
Ich will nicht gefeiert werden. Ich will kein Drama. Ich will einfach nur Bewusstsein schaffen. Vor allem für das Leise. Für das, was so schnell passiert, ohne dass man es merkt.
Ich dachte lange, die Geschichte sei abgeschlossen. Aber vielleicht muss sie genau deshalb erzählt werden.”
Liebe Jenny (Name auf Wunsch geändert), vielen Dank, dass wir deine berührende Geschichte erzählen durften. Wir wünschen dir und deiner Familie alles Liebe für die Zukunft!
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