Der erste Schultag ist ein riesiger Schritt. Für Kinder – und für uns Eltern. Was viele jedoch nicht wissen: Immer mehr Kinder starten mit deutlichen Rückständen in diesen neuen Lebensabschnitt. Sie können sich nicht allein anziehen, keine Schere benutzen, nicht schwimmen, nicht mit Enttäuschungen umgehen.
„Wir sehen bei den schulärztlichen Untersuchungen ganz deutlich: Viele Kinder bringen grundlegende Alltagskompetenzen nicht mit“, sagt Klaus Seifried, langjähriger Schulpsychologe und Mitglied im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen.
Wir haben mit ihm im Interview darüber gesprochen, woran das liegt – und was Eltern tun können, um ihre Kinder besser auf das Leben (und den Schulstart) vorzubereiten.
Was sind eigentlich Alltagskompetenzen – und warum sind sie so wichtig?
„Alltagskompetenzen sind Fähigkeiten, mit denen Kinder ihr Lebensumfeld altersgemäß gestalten können“, erklärt Seifried. Für Grundschulkinder bedeutet das: sich selbst anziehen, mit Messer und Gabel essen, sich konzentrieren, mit Frust umgehen können. „Aber auch: wissen, wo die Regenjacke hängt. Oder den Schulranzen allein packen.“
Diese Fähigkeiten entstehen nicht über Nacht – sie entwickeln sich im Alltag. Und genau dort sieht Seifried ein wachsendes Problem. „Immer mehr Kinder kommen mit motorischen und kognitiven Defiziten in die Schule – das betrifft nicht nur bildungsferne Familien.“
Sein Eindruck wird durch schulärztliche Untersuchungen bestätigt: Rund elf Prozent der Kinder zeigen im Alter von 5-6 Jahren Übergewicht und Koordinationsprobleme, bei 17-20% sind die Visiomotorik und visuelle Wahrnehmung nicht altersgemäß entwickelt, bei 10% das Mengenverständnis und 32% haben Sprachdefizite.
Woran liegt das? Und was läuft zu Hause schief?
Laut Seifried liegt ein Kernproblem darin, dass Kinder heute zu früh und zu viel Medien nutzen: Spiele auf dem Handy oder Tablet, Filme oder Computerspiele. Kinder unter 12 Jahren sollten kein Handy haben und Eltern sollten das Fernsehen, die Tablet- und Computernutzung stark beschränken. „Nehmen Sie sich Zeit für Ihr Kind. Spielen Sie mit Ihrem Kind, fahren Sie Fahrrad oder gehen Sie schwimmen.“ Eltern sollten hier Vorbild sein.
Häufig haben Kinder auch zu wenig Verantwortung – und stattdessen wird ihnen zu viel abgenommen: Anziehen, Zimmer aufräumen, Schuhe anziehen …. „Wenn ein Kind spürt: ‚Ich kann das‘, dann wächst das Selbstvertrauen. Wenn es aber ständig hört: „Ich mach`das für dich“, „Pass auf, das ist zu schwer für dich“, dann entwickelt es Unsicherheit – oder vermeidet Herausforderungen.“
Kinder müssen lernen, sich selbst zu regulieren
Ein weiterer Punkt: die mangelnde Selbstregulation. Damit ist gemeint, dass Kinder lernen, sich selbst zu steuern – ihre Impulse, ihre Gefühle, ihre Aufmerksamkeit. Auch das passiert nicht von selbst – sondern durch Begleitung, Übung und Vorbilder. „Kinder müssen erleben, dass sie auch mit Frust, mit Fehlern, mit Schwierigkeiten umgehen können“, sagt Seifried.
Ein Klettergerüst auf dem Spielplatz sei ein gutes Beispiel: „Die eine Mutter sagt: ‚Pass auf, das ist gefährlich‘ – das Kind entwickelt Ängste und klettert nicht. Die andere sagt: ‚Ich bin da – ich glaube, du schaffst das‘ – und das Kind gewinnt Vertrauen.“
Was Seifried ebenfalls oft beobachtet: Manche Kinder sind durchgetaktet wie kleine Manager – Geige, Sport, Logopädie. Andere verbringen ihre Nachmittage vor dem Tablet. Beides sei problematisch. „Kinder brauchen Zeit – für freies Spiel, für Langeweile, für Mithelfen im Haushalt. Nur dann entwickeln sie ein Gefühl dafür, was Alltag bedeutet – und wie sie ihn mitgestalten können.“
Eltern meinen es gut – aber trauen Kindern zu wenig zu
Dabei macht der Experte deutlich: „Die meisten Eltern meinen es gut – aber viele wissen nicht, wie wichtig es ist, dass Kinder mithelfen, mitdenken, mitmachen und Verantwortung übernehmen.“
Drei Tipps vom Experten: So stärken Eltern Alltagskompetenzen
- Trau deinem Kind mehr zu. Auch wenn es länger dauert oder mal schiefgeht: Nur wer Dinge ausprobiert, kann wachsen. „Kinder müssen auch mal scheitern dürfen.“
- Verantwortung im Alltag übertragen. Kinder können im Haushalt helfen. „Ob Tischdecken oder Schuhe binden – das sind echte Erfolgserlebnisse.“
- Im Kontakt bleiben. Tausche dich mit Kita-Erzieher:innen oder Lehrer:innen aus. „Manchmal kann dein Kind längst mehr, als du denkst – du hast es nur noch nicht gesehen.“
Mehr loslassen, mehr zutrauen, mehr Zeit schenken
Es geht nicht darum, dass Kinder alles perfekt können. Aber sie sollten die Chance bekommen, altersgerecht mit Herausforderungen umzugehen – und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Das bedeutet für uns Eltern: mehr loslassen, mehr zutrauen, mehr Zeit schenken.
Und wie Klaus Seifried sagt: „Jede Mama und jeder Papa macht auch mal Fehler – aber fast alle wollen das Beste für ihr Kind. Und das ist schon mal ein guter Anfang.“
Vielen Dank an unseren Experten Klaus Seifried!

Klaus Seifried. Foto: Markus Wächter / Waechter