Darum muss mein Kind nicht gehorchen!

Ein Kind beim Aufwachsen zu begleiten, ist nicht leichter geworden. Aber nicht, weil früher alles besser gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Früher hat man von Kindern einfach Gehorsam erwartet. Keine Widerworte. Um das zu erreichen, war (fast) alles erlaubt. Im Zweifelsfall setzt es eben was! Und die eigenen Bedürfnisse der Kleinen? „Kind, du hast nichts zu wollen!“. „Schweig, wenn Erwachsene reden!“  Brrrrr… wer will schon dahin zurück?

Die Frage ist nur: Was machen wir denn jetzt bloß? Das Schlagwort „unerzogen“ ist in aller Munde – und wird wahlweise abgefeiert oder verdammt. Bloß, was heißt das überhaupt? Ganz ohne Regeln geht es schließlich nicht. Auch wenn man diese nicht mehr so nennen mag, muss dein Kind ja wissen, dass es nicht auf die Straße laufen darf und auch andere Menschen Bedürfnisse haben. Und ganz ehrlich: Haben wir uns in schwachen Momenten nicht alle schon mal zähneknirschend gewünscht, das Kind würde jetzt einfach mal machen, was wir sagen. Das wünsche ich mir zumindest in vielen müden Momenten. Aber es gibt etwas, dass ich mir noch mehr wünsche…

Mein Kind soll für sich selbst denken

Unser Sohn soll zwischen richtig und falsch unterscheiden können. Und zwar nicht, indem wir ihm einfach nur vorgeben, was er zu tun hat. Er soll eigene Schlüsse ziehen dürfen, und deshalb reden wir ganz viel über das, was uns wichtig ist. Ein gehorsames Kind, das nichts hinterfragt, kann schlecht Nein sagen. Aber ich will, dass mein Sohn Nein sagt. Zum Beispiel, wenn ein Erwachsener etwas von ihm verlangt, was er nicht möchte. Nicht alle meinen es gut. Deshalb darf er auch Nein sagen, wenn die Oma ihn abknutschen möchte. Sein Körper gehört ihm, das soll er von Anfang an wissen. Er soll auch Nein sagen, wenn Idioten etwas Blödes von ihm verlangen, etwa andere auszugrenzen.

Kinder hören, wenn man ihnen zuhört

Wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umsehe, sind oft gerade die Kinder besonders einfühlsam und freundlich, deren Eltern wenig verbieten, aber sich die Mühe machen, mit ihrem Kind zu diskutieren. Diejenigen, die das als zu viel Bla-Bla abtun und klare Ansagen fordern, haben oft nur auf den ersten Blick brave Kinder, die dann hinter deren Rücken viel Mist machen und alles andere als nett zu anderen Kindern sind. Ich bekomme zum Beispiel oft gesagt, was für ein angenehmer Gast unser Sohn ist, und habe ebenso oft erlebt, dass „streng“ erzogene Kinder unsere Schränke ausräumen und sich trotz meines Verbots einfach alle Süßigkeiten aus Schubladen genommen haben.

Vor kurzem wurde aber auch gesagt, ich würde mit meinem Sohn zu viel diskutieren. Der spielte zu dem Zeitpunkt ganz brav mit einem Bagger, während der „strenge“ Papa seines Freundes, sein Kind gerade das zehnte Mal anschnauzte (ohne es wirklich zu beachten), es solle den Stuhl nicht mehr umwerfen — und ihn am Ende erst mit einem (für mich zu) festen Griff um beide Oberarme bremsen konnte.

Diese Beobachtung lässt sich vielleicht nicht verallgemeinern, aber ich finde sie ganz schlüssig. Wer Kindern die gesetzten Grenzen nicht erklärt und Widerworte abschmettert („Das ist eben so – basta!“), vermittelt vielleicht Regeln, aber keine echten Werte – wie zum Beispiel den Respekt vor anderen und deren Bedürfnissen. Werte sorgen aber dafür, dass Kinder in ganz verschiedenen Situationen eine gute Entscheidung treffen können. Kinder lernen durch Vorbilder. Deshalb glaube ich, dass sie bereit sind, ihren Eltern zuzuhören, wenn ihnen auch zugehört wurde. Man wird später kein Egoist, weil die eigenen Bedürfnisse als wichtig angesehen wurden – sondern eher, weil einem von Eltern vorgelebt wurde, das man am besten nur den eigenen Willen durchsetzt.

Wer ist hier der Boss?

Klar, dass man in Gefahrensituationen nicht lange diskutieren kann – dann muss auch mal ein „Stop“ reichen (bevor das Kind auf die Straße rennt). Auch heißt zuhören nicht, dass man immer nachgibt. Wer jeden Wunsch erfüllt, erweckt bei dem Kind den Eindruck, es hätte Anspruch auf alles – auch das kann später zu maßlosen Forderungen führen. Auch wirklich bedürfnisorientierte Eltern lassen ihr Kind nicht alles bestimmen. Familientherapie-Ikone Jesper Juul zeigt in seinem Buch „Leitwölfe sein – Liebevolle Führung in der Familie“ (Affiliate Link), wie man einem Kind sanft Grenzen setzt und ihm damit auch Halt gibt. Kinder anzuhören und auf sie einzugehen, bedeutet eben nicht, zu „faul“ für ein Nein zu sein, um sich Dramen zu ersparen. Nicht jeder Wunsch (heute das Feuerwehrauto, morgen das Playmobil-Set) des Kindes muss erfüllt werden, echte Bedürfnisse (über die eigene Zeit/den eigenen Körper bestimmen wollen) sollten aber nicht missachtet werden.

Auch mein Sohn muss immer wieder mit einem Nein zurecht kommen. Doch wenn ich eine Grenze ziehe, erkläre ich sie ihm. Wenn er nicht in den Supermarkt möchte (weil er völlig erschöpft von einem langen KiTa-Tag ist), signalisiere ich ihm, dass es da leider keine Wahl gibt, weil wir sonst nichts zu essen haben. Ich frage ihn aber auch, ob ich etwas für ihn tun kann, was es ihm leichter macht. Und damit meine ich keine Bestechung mit Süßigkeiten (Okay, habe ich auch schon getan), sondern dass wir danach zum Beispiel in Ruhe ein Buch lesen oder auf den Spielplatz gehen können. Damit achte ich sein Bedürfnis, auch  etwas bestimmen zu dürfen und nicht ausgeliefert zu sein. Meist müssen wir gar nicht lange diskutieren. Und ich glaube, das liegt auch daran, dass mein Sohn merkt, dass mich wirklich interessiert, was er zu sagen hat und wie es ihm geht. Wenn Verständnis aufgesetzt ist, z. B. einfach nur um eine bestimmte Erziehungsmethode zu praktizieren, merken Kinder das.

Mein Kind soll fliegen lernen, auch wenn ich Fehler mache…

Apropos authentisch erziehen: Nein, das mit der Empathie, dem Zuhören und so klappt nicht immer perfekt.  Wenn Arbeitsstress, Sorgen. Müdigkeit und Dauerregen zusammenkommen, kann es passieren, dass ich am Smartphone scrolle und „Mhm“ mache, während mein Kind auf mich einredet. Oder ich schnauze ihn doch an: „Bitte, zieh dir jetzt einfach die Schuhe an!“ Ist natürlich totaler Mist, so etwas. Aber solange mein Gehirn begrenzte Kapazitäten hat und nicht durch einen Perfect-Mum-Chip ersetzt wird, werde ich  Schwächen haben und zeigen.

Auch das gehört zu der Realität, in die ich mein Kind irgendwann fliegen lassen würde. Ich fürchte nicht, dass er an den Respekt verliert, wenn ich auch mal auf ihn höre und dementsprechend „inkonsequent“ bin. Oder wenn ich mal zugebe, nicht alles zu wissen, sondern fehlbar zu sein. Schließlich respektiere ich auch eher Menschen, die Fehler zugeben, statt so zu tun, als könnten und wüssten sie alles.

Ich hoffe einfach, dass der positive Input von unserer Seite überwiegt. Ich wünsche mir so sehr, dass unser Sohn ein gutes Selbstwertgefühl entwickelt. Ausgerechnet die fiesen Typen haben bekanntlich oft gar keines und müssen ihre gefühlte Machtlosigkeit kompensieren. Und ich glaube, dass es für ein gesundes Selbstwertgefühl ganz wichtig ist, dass wir zu unserer eigenen Meinung, unseren Empfindungen und Wünschen stehen dürfen – die Kinder genauso wie die Eltern –, ohne dafür  verurteilt zu werden.

Erzählt doch mal, wie es bei euch ist. Findet ihr es auch so wichtig, euren Kind aufmerksam Gehör zu schenken und ganz viel mit ihm zu reden? Oder wünscht ihr euch, dass eure Kinder ohne große Diskussion „spuren“? 

Jana Stieler
Ich lebe mit Mann und Sohn im Süden Hamburgs – am Rande der Harburger "Berge" (Süddeutsche mal kurz weghören: Der höchste Punkt misst immerhin sagenhafte 155 Meter ü. M.). Wenn ich nicht gerade einen Text verfasse, liebe ich Outdoor-Abenteuer mit meiner Familie, lange Buch-Badewannen-Sessions mit mir allein und abendliches Serien-Binge-Watching.

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