Als Baby entführt: Mama & Sohn sehen sich nach 42 Jahren wieder

Jimmy Thyden trug einen neuen blauen Anzug und hatte einen Blumenstrauß in der Hand, als er in Chile zum ersten Mal in seinem Leben auf seine Mama zuging. Er schaute Maria Angelica González in die Augen und sagte er schlicht: „Hola, Mama.“

Maria, die die letzten 42 Jahre gedacht hatte, ihr Sohn sei kurz nach der Geburt gestorben, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Jimmy ließ sich sofort in ihre Arme fallen und sagte ihr auf Spanisch, wie sehr ihr sie liebte. Die Szenen der Wiedervereinigung von Mutter und Sohn nach über vier Jahrzehnten sind innig und bezeugen den Schmerz, den beide erfahren haben.

„Es war unglaublich, als würde man nach 42 Jahren ein Puzzleteil finden“, sagte Jimmy nach dem Aufeinandertreffen laut cbc.ca. „Es ist erstaunlich, dass ich sofort das Gefühl hatte, dazuzugehören – als ob ich die ganze Zeit hier sein sollte.

Das Wiedersehen am 17. August wurde von Nos Buscamos gefilmt, einer Organisation, die sich für die Wiedervereinigung von Chilenen einsetzt, die wie Jimmy in den 1970er und 1980er Jahren als Babys ihren Eltern entrissen und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen international zur Adoption freigegeben wurden.

Jimmy, heute Strafverteidiger, wuchs bei Adoptiveltern in Virginia auf.

Aber er wurde in einem Krankenhaus in der chilenischen Hauptstadt Santiago geboren. Er kam als Frühchen zur Welt und wurde in den Brutkasten gelegt. Das medizinische Personal schickte seine Mutter nach Hause und als sie später kam, um ihr Kind zu sehen, teilte man ihr mit, dass der kleine Jimmy verstorben sei.

„Als sie um meinen Leichnam bat, damit sie ihren Sohn wenigstens beerdigen könnte, verweigerten sie ihr auch das und sagten ihr, sie hätten den Körper entsorgt“, erzählt Jimmy. Auch seine Adoptiveltern seien in die Irre geführt worden. Aus seinen Adoptionsakten geht hervor, dass er keine lebenden Verwandten habe, obwohl er tatsächlich eine Mutter, vier Brüder und eine Schwester hat.

Grausame Adoptionspraxis unter der Herrschaft von Diktator Augusto Pinochet

Jimmy und seine Familie wurden Opfer einer grausamen Adoptionspraxis, die während der Herrschaft des Diktators Augusto Pinochet in Chile jahrzehntelang durchgeführt wurde. Dafür wurden Babys aus überwiegend einkommensschwachen Familien an Amerikaner und andere ausländische Familien vermittelt, die hohe Gebühren zahlten.

„Den Menschen, denen die Kinder vermittelt wurden, wurde vorgegaukelt, dass alles rechtens sei, dass alles legitim sei. Und sie glaubten, sie würden für Dinge wie die Arztkosten der Mutter oder Kontrolluntersuchungen aufkommen, die Baby- oder Wochenbettbetreuung usw.“, erklärt Jimmy,

Tatsächlich sahen die betroffenen Familien nie etwas von dem Geld.

Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt. Es gibt jedoch Schätzungen, dass auf diese Art und Weise mehr als 20.000 Kinder gestohlen wurden. Manche Organisationen gehen sogar von bis zu 50.000 Kindern aus.

Jimmy erfuhr zum ersten Mal davon, als seine Frau in „USA Today” auf einen Artikel über einen Mann aus Kalifornien stieß, der mit seiner chilenischen Familie wiedervereint worden war. Er wandte sich an Nos Buscamos. Die Organisation arbeitet mit der Ahnenforschungs-Plattform MyHeritage zusammen, die kostenlose DNA-Testkits für zu Hause für chilenische Adoptierte bereitstellt.

Zunächst zögert Jimmy bevor er den Test macht.

„Ich bin Strafverteidiger, daher war ich anfangs nicht bereit, meine DNA preiszugeben“, erklärt er. Aber er und seine Frau hatten gerade zwei eigene Babys verloren – Zwillinge. „Mir wurde klar, dass ich nicht besser wäre als die Täter, wenn ich meiner leiblichen Mutter die Wahrheit verweigerte.“

Sein DNA-Test bestätigte, dass er zu 100 Prozent Chilene war, und ordnete ihn einem Cousin ersten Grades zu, der ebenfalls MyHeritage nutzte. Das führte Jimmy schließlich zum Haus seiner Mutter.

„Es ist ein Wunder Gottes.”

„Es ist ein Wunder Gottes“, sagte die 69-jährige Maria gegenüber USA Today. „Als ich erfuhr, dass er lebte, konnte ich es nicht glauben.“ Jimmy, seine Frau und ihre beiden gemeinsamen Töchter sind nach dem ersten Kennenlernen noch länger bei der Familie in Chile geblieben.

„Wir hatten nichts als Zeit. Wir saßen zusammen und redeten und wir zeigten uns Fotos – Fotos von Familienmomenten, die ich verpasst habe. Und ich zeige ihnen auch Familienmomente und Fotos aus meinem Leben. Etwas so Einfaches, wie der Gang zum Tante-Emma-Laden, einem Ort, den sie mehrmals am Tag aufsuchen, um Lebensmittel einzukaufen, ist für mich ein Abenteuer, weil … das ist ein Laden, zu dem ich gegangen wäre”, erklärt er.

Er stellte seine beiden Mütter – seine ‚Mama‘ und seine ‚Mom‘ – auch schon in einem Videoanruf vor.

„Das erste, was meine Mama zu meiner Mom sagte, war: ‚Danke. Danke, dass du dich um ihn kümmerst und ihm ein Leben mit Bedeutung geschenkt hast.‘ Sie hatte allen Grund, wütend zu sein, nachtragend zu sein … und stattdessen begegnete sie dem Moment mit Demut. Und meine Mom auch. Sie dankte ihr ebenfalls einfach, dankte ihr für das Geschenk eines Sohnes, für den sie sorgen konnte.“

Jimmy nutzt sein neu gewonnenes Rampenlicht, um sich für andere Familien einzusetzen. Er fordert mehr Unterstützung von der chilenischen Regierung und den Staaten, in denen die Adoptionen stattgefunden haben, um mehr dieser Wiedervereinigungen zu ermöglichen.

„Das lässt sich nicht wiedergutmachen.”

„Das lässt sich nicht wiedergutmachen. Man kann es nur besser machen“, sagte er. „Die einzige Möglichkeit, dies zu verbessern, ist eine Wiedervereinigung, und diese muss für alle zugänglich sein, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten.“

Er denkt immer wieder an die Meilensteine, die er verpasst hat. „Es darf keine verpassten Hochzeiten und Feiertage mehr geben“, sagte er. So lautet sein Leitgedanke für die Zukunft. Für ihn und seine wiedergefundene Familie soll es keine Abschiede mehr geben, sondern nur ein „bis später”.

 

Lena Krause
Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg und übe mich als Patentante (des süßesten kleinen Mädchens der Welt, versteht sich). Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach! Bevor ich bei Echte Mamas gelandet bin, habe ich Literatur und Medienwissenschaften studiert und nebenbei in einer Agentur als Texterin gearbeitet. Danach habe ich im Lokaljournalismus angefangen und sogar mit meinem Team den „Vor-Ort-NRW-Preis” gewonnen. Die große Nähe zu Menschen und Lebensrealitäten habe ich dort lieben gelernt und das lasse ich jetzt in unsere Echten Geschichten einfließen. Die sind mir nämlich eine Herzensangelegenheit, genauso wie die Themen Vereinbarkeit, Female Empowerment und Psychologie.

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