Ein Leben im Krieg: Für die meisten von uns ist es unvorstellbar, und damit können wir uns sehr glücklich schätzen. Denn für die Menschen in der Ukraine ist es seit inzwischen fast vier Jahren bittere Realität. Im Februar 2022 griff Russland die Ukraine an, seitdem sind Tausende Menschen gestorben oder wurden verletzt, komplette Städte wurden zerstört. Viele Ukrainer*innen mussten aus ihrer Heimat fliehen, doch längst nicht alle haben das Land verlassen. Eine von ihnen ist Darja, die mit ihren beiden Kindern in Kyjiw wohnt. Wie das Leben im Krieg für die zweifache Mama aussieht, wie sie mit ihren Kindern über den Krieg spricht, was ihre größte Angst ist, und warum sie das Land nicht verlässt – all das hat Darja uns in ihrer Echten Geschichte erzählt:
„Ich heiße Darja, bin 30 Jahre alt und aktuell in der 14. Schwangerschaftswoche. Ich habe zwei Kinder: Taras, 3,5 Jahre alt, und Lina, 1,5 Jahre alt. Wir leben seit 2022 in Kyjiw (Anmerkung der Redaktion: Die Schreibweise der Hauptstadt Kiew leitet sich von der ukrainischen Sprache ab).
Vor dem Krieg haben wir in Charkiw gewohnt, und ich habe in einem IT-Unternehmen gearbeitet.
Als der Krieg begann und es dort immer gefährlicher wurde, mussten wir schnell entscheiden, wohin wir überhaupt noch gehen können. Kyjiw war für uns damals der sicherste erreichbare Ort – und so sind wir hierhergezogen und haben beschlossen, zu bleiben.
Mein erstes Kind wurde während des Krieges geboren.
Mein Sohn kam 2022 zur Welt, und mit diesem Moment hat sich mein Leben komplett verändert. Krieg und Mutterschaft begleiten mich seitdem gleichzeitig. Das Muttersein in Friedenszeiten kenne ich deshalb gar nicht.
Ich war ohnehin voller Sorgen um den Schlaf, die Gesundheit und das Wohlbefinden meines Kindes. Und der Krieg wurde einfach ein weiterer ständiger Faktor dieser Sorgen. Er steht für mich auf derselben Ebene wie all die typischen Ängste, die eine junge Mutter hat. Diese Angst war von Anfang an ‚im Paket‘ nach der Geburt meines Kindes dabei.
Leider weiß ich nicht, wie es ist, ohne sie zu leben, denn vor dem Krieg habe ich ein kinderloses Leben geführt.
Heute gehen meine Kinder hier in Kyjiw in die Kita.
Die staatlichen Kindergärten funktionieren trotz des Krieges noch – allerdings nur, wenn sie einen eigenen Bunker haben. Unsere Kita liegt ganz in unsere Nähe, und sogar die Kleine besucht schon die Gruppe für 1- bis 2-Jährige.
Wir lieben unsere Erzieherinnen sehr: Sie leisten unglaublich harte Arbeit, die durch den Krieg und die regelmäßigen Stromabschaltungen noch schwieriger geworden ist.
Durch die Schäden an der Heizanlage der Stadt, die russische Raketen und Drohnen zerstört haben, leben wir jetzt nach festen Stromplänen – mal ist Licht da, mal nicht.Das macht unseren Alltag extrem kompliziert, weil wir alles nach diesen Zeiten organisieren müssen.
Wir als Eltern versuchen, den Erzieherinnen alles so gut wie möglich zu erleichtern. Wir kaufen, was gebraucht wird, reagieren auf jede Bitte und unterstützen, wo wir können. Wir sind ein Team.
Ich meistere den Alltag mit den Kindern allein, denn mein Mann dient an der Front.
Deshalb stehe ich früher als die Kinder auf, bereite Frühstück zu und packe alles für die Kita ein. Die Kinder frühstücken, putzen die Zähne – und dann rennen wir los. Während sie in der Kita sind, erledige ich die gesamte Hausarbeit, und um 16 Uhr hole ich sie wieder ab.
Nach der Kita treffen wir uns mit Freunden, gehen zu Kursen oder besuchen andere Familien. Der Austausch mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie wir, hilft mir enorm, mein mentales Gleichgewicht zu halten.
Am schwierigsten ist es für mich, alles allein stemmen zu müssen. Ich habe keine Möglichkeit auszuruhen, länger zu schlafen, mal zu Hause zu bleiben oder ihn um Hilfe zu bitten. Es ist unglaublich schwer, immer die einzige erwachsene Person zu sein.
Was für andere unvorstellbar ist, ist für mich inzwischen Normalität.
Zum Beispiel ist es für mich normal geworden, jeden Abend im Flur ein kleines ‚Schlaflager‘ für die Kinder vorzubereiten, einen Feuerlöscher zu Hause zu haben, für jeden von uns eine Notfalltasche bereitzuhalten und täglich zu erklären, warum sie den Alarm hören, warum Häuser um uns herum zerstört sind und warum Papa nicht bei uns wohnt.
Ich bin ehrlich zu meinen Kindern und sage ihnen die Wahrheit.
Uns hilft dabei sehr das Kinderbuch ‚Der Kampf um die Stadt‘, das speziell dafür geschrieben wurde, Kindern den Krieg verständlicher zu erklären. Mein Sohn versteht, dass es ‚Böse‘ gibt, die in unser Land gekommen sind und alles zerstören, sowie Menschen, die uns verteidigen.
Und die ‚Bumm-Bumm‘-Geräusche, die er hört, kommen – wie ich ihm erkläre – von einem Flugzeug, das die bösen Raketen abschießt.
Genauso erkläre ich den Kindern auch die Situation mit ihrem Papa. Am Anfang haben wir unserem Sohn gesagt, dass Papa die ‚bösen Raketen‘ abschießt, die auf uns zufliegen. Jetzt erkläre ich ihm, dass Papa uns vor den bösen Russen schützt.
Unser Sohn vermisst seinen Papa sehr und fragt ständig, wann er endlich wieder nach Hause kommt.
Meine Tochter versteht leider nicht, wer ihr Papa ist – sie sieht ihn nur über Videoanrufe oder wenn wir ihn für einen Tag besuchen dürfen. Wir fahren etwa alle ein bis zwei Monate zu ihm, je nachdem, wann er freibekommt. Sobald er sagt, dass er ein paar freie Tage hat, lassen wir alles stehen und liegen und fahren sofort los.
Dadurch, dass meine Kinder während des Krieges geboren wurden, ist das alles für sie nicht beängstigend. Sie nehmen vieles als „normal“ wahr, einfach weil sie noch so klein sind. Meine Aufgabe ist es, ihnen trotz allem eine glückliche Kindheit zu bewahren.
Ich habe meine eigenen Gefühle längst ausgeblendet und lebe nur im Heute.
Wir verbringen viel Zeit miteinander, lachen, spielen und nehmen von diesem Leben alles Gute, was es gerade geben kann. Niemand weiß, was morgen sein wird – deshalb wählen wir nicht das Leiden, sondern das Leben.
Trotzdem ist der Tod das, wovor ich am meisten Angst habe.
Wenn er überall um dich herum ist, fühlt sich der Gedanke, dieses Leben zu verlieren, noch viel schrecklicher an. Wir lieben unser Leben sehr und wollen so viel wie möglich davon erleben.
Dabei geben mir meine Kinder Kraft: ihr Lächeln, ihre ersten Worte, wie sie wachsen und mich anschauen. Dafür lohnt es sich zu leben.
Meine größte Hoffnung ist der Glaube daran, dass unsere Familie wieder vereint sein wird, und wir all unsere Träume gemeinsam verwirklichen.
Mein Mann und ich sprechen ständig darüber, was wir nach dem Krieg tun möchten. Wir planen unser zukünftiges Leben aus der Ferne – und genau das gibt uns Halt.
Trotz allem kommt es für mich nicht infrage, die Ukraine zu verlassen.
Zu Beginn des Krieges bin ich für zwei Monate nach Polen gefahren, um meinen Sohn dort zur Welt zu bringen. Abgesehen davon möchte ich das Land aber nicht verlassen. Ja, ich würde gerne irgendwohin ziehen, wo es ruhiger ist – aber ohne meinen Mann ist das unmöglich.
Wenn wir ins Ausland gehen würden, könnten die Kinder ihren Papa überhaupt nicht sehen. Das kommt für mich nicht infrage.
Ich versuche stattdessen, hier in Kyjiw ein möglichst sicheres Umfeld für sie zu schaffen.
Wir ignorieren keine Luftalarme. Bei jeder Alarmmeldung schlafen wir im Hausflur des Gebäudes – dort hören die Kinder keine Explosionen und schlafen die ganze Nacht durch. Ich habe eine große Matratze gekauft, die genau in den Flur passt, und mich mit den Nachbarn abgesprochen.
Ende November ist eine Shahed-Drohne direkt ins Nachbarhaus eingeschlagen.
Auch unser Haus wurde beschädigt, aber wir lagen im Flur – und die Kinder sind nicht einmal aufgewacht.
Einige unserer Freunde sind ins Ausland gegangen, aber der Kontakt hat sich nach und nach verloren.
Wir bleiben vor allem mit Familien in Verbindung, deren Väter ebenfalls an der Front sind, und die denselben Alltag erleben wie wir.
Es fällt mir schwer, Beziehungen zu Menschen zu halten, die nicht im Kontext des Krieges leben. Ebenso schwer ist es für mich, mit Frauen zu sprechen, deren Männer illegal ausgereist sind, während mein Mann freiwillig an die Front gegangen ist.
Unsere Wege haben sich getrennt – unsere Themen, unsere Realität und unsere Sorgen sind einfach zu unterschiedlich.
Aus der Zeit vor dem Krieg vermisse ich es am meisten, nicht um unser Leben fürchten zu müssen.
Ich vermisse es, frei spazieren zu gehen, ohne bei jedem Schritt darüber nachzudenken, dass wir in der nächsten Sekunde vielleicht wieder rennen und uns verstecken müssen.
Ich wünsche mir, endlich wieder einmal tief durchatmen zu können – ohne Angst, so wie früher.
Und ich vermisse auch Dinge, die früher selbstverständlich waren, aber heute einfach nicht mehr möglich sind. Für unsere Familie waren gemeinsame Reisen zum Beispiel immer sehr wichtig. Wir waren früher sehr viel unterwegs und haben davon geträumt, unseren Kindern die Welt zu zeigen. Das ist heute unmöglich. Unsere ‚Reisen‘ sehen jetzt so aus, dass wir nach Charkiw fahren, um Papa zu besuchen.
Mein größter Traum hat sich auch durch den Krieg nicht verändert.
Mein Mann und ich haben immer von einer großen Familie, einem eigenen Zuhause und gemeinsamen Reisen geträumt. Und wir gehen – so gut es unter diesen Umständen möglich ist – weiterhin diesen Weg, trotz des Krieges. Wir haben unseren gemeinsamen Traum nicht aufgegeben!
Für meine Kinder wünsche ich mir außerdem Frieden und eine glückliche, unbeschwerte Kindheit.
Anderen Müttern würde ich gern sagen: Wir haben nur dieses eine Leben!
Herausforderungen wird es immer geben. Unsere Aufgabe ist es, uns an jede Situation anzupassen und weiterzuleben – denn dieses Leben ist unser einziges. Trotz des Krieges versuchen wir, Freude zu finden, das Positive in jedem Tag zu sehen und jeden Tag zu lächeln.
Vor kurzem haben wir ein kleines Kätzchen aus dem Tierheim adoptiert. Wir hatten die Möglichkeit, ein Leben zu retten – und gleichzeitig unseres und ihres ein kleines Stück besser zu machen. Diese Chance wollten wir nicht ungenutzt lassen.”
Vielen Dank, liebe Darja, dass wir Deine bewegende Geschichte teilen dürfen. Wir wünschen Dir und Deiner Familie von Herzen alles Gute!
Den Erfahrungsbericht von Darja haben wir über das Netzwerk von Tatjana Kiel bekommen, der Geschäftsführerin der Hilfsorganisation #WeAreAllUkrainians
„Zahlreiche unserer Hilfsprojekte konzentrieren sich auf Frauen und Kinder, angefangen mit Müttern von Neugeborenen, die das Wochenbett im schlimmen Kriegsalltag durchstehen müssen oder unsere Kampagne #KindheitEndetWennKriegBeginnt, mit der wir psychologische Hilfe für die traumatisierten Kriegskinder mobilisieren“, erklärt Tatjana. „Die Einzelschicksale, aber auch die Dankbarkeit gehen uns immer wieder sehr ans Herz.“
#WeAreAllUkrainians ist von der ad-hoc Initiative von Dr. Wladimir Klitschko, Tatjana Kiel und Dörte Kruppa in den ersten Kriegstagen im Februar 2022 zu einer gemeinnützigen Hilfsorganisation geworden, die mit Unternehmens- und Stiftungspartnern sowie NGO-Partnern umfangreiche Hilfsprojekte in der Ukraine umsetzt.
Mehr Infos dazu, und wie wir alle helfen und etwas Hoffnung schenken können, findest du auf der Website weareallurainians.de
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