„1 Jahr nach der Diagnose unserer Tochter bekam unser Sohn Leukämie“

„Auf den ersten Blick sind wir eine ganz normale Familie. Doch jeder, der uns kennt, weiß, was wir in den letzten Jahren alles einstecken mussten. Ich bin glücklich verheirate und wir haben zwei tolle Kinder bekommen. Es war alles in Ordnung. Unser Sohn Jaron ist 2013 zur Welt gekommen und unsere Tochter Tilda 2015.

Alles war perfekt. Und dann ging es los.

Nach einem Jahr fiel uns auf, dass sich unsere Tochter nicht weiterentwickelt. Sie fing nicht an zu brabbeln und hat sich nicht hochgezogen. Mir war bewusst, dass Kinder das mit einem Jahr noch nicht müssen, aber ich wusste einfach, da stimmt etwas nicht. Ich habe sie jedes Mal mit zu den Untersuchungen genommen, und jedes Mal hieß es, dass sie einfach etwas spät dran sei, das wird noch.

Als sie anderthalb Jahre alt war, bin ich wieder mit ihr zum Arzt gegangen und habe drauf bestanden, dass jetzt etwas gemacht wird. Der Arzt stimmte auch endlich zu. Wir sind dann von Mediziner zu Mediziner gelaufen, aber keiner konnte uns sagen, was mit Tilda los ist. Im November 2017 waren wir dann im Kinderzentrum. Nach einem zweistündigen Gespräch ging die Ärztin raus und kam mit ihrem Chef wieder.

Meistens schon kein gutes Zeichen.

Es wurde ein Verdacht ausgesprochen, und wir wurden gefragt, ob wir es testen lassen wollen. Na klar, wir wollten ja wissen, was los ist. Die Ärzte vermuteten, dass unsere kleine Maus das Rett-Syndrom haben könnte. Wir haben einen Flyer mitbekommen, in dem ich unsere Tochter sofort wiedererkannt habe. Da war es mir dann eigentlich schon klar. Nach drei Wochen kam dann der Anruf: Der Verdacht hatte sich bestätigt, unsere Tochter hat das Rett-Syndrom.

Diese Krankheit ist eine Wundertüte. Wir wissen nicht, was in diesem Jahr und in den nächsten fünf Jahren passiert. Wir haben fast 12 Monate gebraucht, damit klar zu kommen. Als meine Tochter ein Jahr alt war, konnte sie eigenständig ein Brötchen halten. Nun ist sie fünf und beim Essen wieder auf unsere Hilfe angewiesen. Tilda wird wahrscheinlich nie sprechen lernen, es ist unklar, ob sie jemals laufen lernt. Meine Tochter wird immer auf Hilfe angewiesen sein.

Im Januar kam dann die nächste schlechte Nachricht.

Schon im November bemerkte ich einige blaue Flecken an den Beinen unseres Sohnes. Hat er sich bestimmt beim Spielen geholt, dachte ich. Im Dezember fing er plötzlich an, wieder einzunässen. Das kam mir und meinen Mann komisch vor, aber wir vermuteten, dass es an der seelischen Belastung durch die Diagnose seiner Schwester liegt. Doch irgendwann kamen weitere Flecken dazu, mein Sohn wurde außerdem auffallend schlapp und müde. Ich dachte an eine Hautkrankheit und ging im Januar zum Kinderarzt, der ihm Blut abnahm.

Am gleichen Abend kam ein Anruf vom Kinderarzt. Etwas Sicheres könne er mir noch nicht sagen, aber ich müsste sofort mit Jaron ins Krankenhaus. Dort wisse man schon Bescheid. Und dann folgten die Worte, die ich nie vergessen werde: ‚Es sieht so aus, als hätte ihr Sohn Leukämie‘. Was geht einem da durch den Kopf? Ich konnte es überhaupt nicht realisieren und wusste auch gar nicht, wohin mit mir. Mein Mann war geschäftlich unterwegs, und als ich ihn endlich erreichte, war auch er überzeugt, dass ich mich verhört haben musste.

Ich organisierte eine Betreuung für Tilda, packte eine Tasche und fuhr mit Jaron ins Krankenhaus.

Seine Werte waren so schlecht, dass er quasi sofort auf die Intensivstation musste. Fünf Wochen durfte er das Krankenzimmer nicht verlassen. Mein Mann und ich wechselten uns im Krankenhaus ab, sodass Jaron nie allein war. Während mein Mann die Abende und Nächte übernahm, blieb ich von 8 bis 15 Uhr, wenn Tilda im Kindergarten war. Für mich war das eine schwere Zeit.

Ich wollte und musste mich um Tilda kümmern. Gleichzeitig sah ich die anderen Mamas, die rund um die Uhr bei ihren kranken Kindern im Krankenhaus waren. Ich fühlte mich wie eine Rabenmutter und war gleichzeitig an meiner Belastungsgrenze. Es folgten zwei lange Jahre Chemotherapie. Aber in diesem Jahr haben wir die Therapie erfolgreich beendet. Immerhin konnte mein Sohn noch eingeschult werden, wenigstens ein Stückchen Normalität für ihn. Trotzdem gilt er nicht als geheilt, auch wenn aktuell kein Krebs mehr da ist.

Wie ich das alles ausgehalten habe?

Es war besonders der Austausch mit anderen Eltern, die Ähnliches erleben. Nach Tildas Diagnose schlossen wir uns einer Elterninitiative für Kinder mit Rett-Syndrom an. Inzwischen habe ich dort schon eine gute Freundin gefunden. Während des Krankenaufenthaltes unseres Sohnes lernten wir ein anderes Elternpaar kennen, deren Sohn ebenfalls Leukämie hatte. Die Gespräche mit ihnen während und über die Chemo haben uns geholfen, wir haben auch immer noch Kontakt. Außerdem habe ich mir auch psychologische Unterstützung geholt, um alles verarbeiten zu können.

Für mich als Mama einer Tochter mit Behinderung ist es ab und zu schwierig, nicht in eine Rechtfertigungsposition zu kommen. Tilda hat manchmal Schreiattacken, wenn sie sauer ist, dann schlägt sie auch schon mal nach mir. Ich als ihre Mama weiß, dass das eben die Form ist, in der meine Tochter ihre Gefühle zeigt. Für Außenstehende wirkt das natürlich befremdlich.

Ich spüre die Blicke und habe das Gefühl, die Behinderung meiner Tochter erklären zu müssen.

Auch deswegen ist es mir so wichtig, unsere Geschichte zu erzählen. Schließlich gehören Menschen mit Einschränkungen zu unserer Gesellschaft dazu. Manchmal würde ich mir mehr Selbstverständlichkeit im Kontakt mit ihnen wünschen. Eines meiner großen Vorbilder ist deswegen Kerstin Held, die nicht nur selbst vier Kinder mit Einschränkungen hat, sondern sich auch immer wieder für mehr Inklusion einsetzt.

Jaron geht es inzwischen soweit gut. Tilda leidet leider seit kurzem unter starken epileptischen Anfällen, von denen sie sich mehrere Tage erholen muss. Das ist typisch für das Rett-Syndrom. Wir hatten trotzdem gehofft, davon verschont zu bleiben. Mein Mann sagt immer: ‚Überlege doch mal, beide Kinder leben. Wir sollten glücklich und dankbar sein.‘ Ohne ihn an meiner Seite hätte ich das alles nie geschafft.“


Vielen Dank, liebe Carina, dass du uns deine Geschichte erzählt hast. Wir wünschen dir und deiner Familie alles Liebe für die Zukunft!

WIR FREUEN UNS AUF DEINE GESCHICHTE!
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Lena Krause
Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg und übe mich als Patentante (des süßesten kleinen Mädchens der Welt, versteht sich). Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach! Bevor ich bei Echte Mamas gelandet bin, habe ich Literatur und Medienwissenschaften studiert und nebenbei in einer Agentur als Texterin gearbeitet. Danach habe ich im Lokaljournalismus angefangen und sogar mit meinem Team den „Vor-Ort-NRW-Preis” gewonnen. Die große Nähe zu Menschen und Lebensrealitäten habe ich dort lieben gelernt und das lasse ich jetzt in unsere Echten Geschichten einfließen. Die sind mir nämlich eine Herzensangelegenheit, genauso wie die Themen Vereinbarkeit, Female Empowerment und Psychologie.

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