Auswandern? Eine Mama: „Was wäre, wenn wir bleiben?“

Den Alltag hinter sich lassen, die Kinder einpacken und mit ihnen für einige Wochen oder Monate in einem Häuschen in der Natur wohnen. Wer hat davon noch nicht geträumt?

Mama-Bloggerin Miriam Boettner hat es gewagt – und ist mit ihren Kindern Emil (4) und Ida (2) durch die USA und Kanada gereist. Die Hamburger hat Wochen fernab von Stress und Hektik verbracht, hat in und mit der Natur gelebt, unter anderem in einem kleinen Häuschen am Blue Lake in Kanada.

Hier erzählt sie, was die Zeit ihr und ihrer Familie gebracht hat. Denn um die Jahreswende ist ein guter Zeitpunkt, sich seiner Träume bewusst zu werden und sie auf Realitätscheck zu unterwerfen:

„Was wäre, wenn wir hier im Haus am Blue Lake leben könnten? Was wäre, wenn Kanada unser Zuhause wäre? Ich denke viel darüber nach, wie es wäre, ein ganzes Jahr hier zu verbringen. Alle Jahreszeiten zu erfahren, jede Widrigkeit zu kennen und zu meistern. Wie es wäre, im Winter für Feuer zu sorgen und im Sommer den gefährlichen „black flies“ zu entfliehen. Gehasste, schwarze Fliegen, die kleine Stücke aus der Haut beißen.

Wie es wäre, wenn die Bären im Frühling hungrig erwachen. Die Kinder auf dem Eis laufen zu sehen. Abgeschnitten zu sein, von der Zivilisation.

IMG_6542Wir haben nur dieses eine Leben. Es ist zu kurz um im Alltäglichen zu ertrinken. Es lechzt nach Erfahrungen und Abenteuern. Es möchte gelebt und erlebt werden.

Aber wir werden dennoch nach Hamburg zurückkehren. Wir sind an so Vieles gebunden. Einiges könnten wir entbehren, anderes nicht.

Aber noch sind wir hier. Alleine. Meine Schwägerin Ann, bei der wir wohnen, ist in der nächstgelegenen Stadt Kingston geblieben. Wir haben ein Wochenende dort verbracht und die Familie getroffen. Ein großer Tisch mit duftendem Curry, Kinder, die sich noch nie gesehen haben und dennoch verbunden fühlten. Ann hat das sehr gut auf den Punkt gebracht, als sie am Ende sagte: Wir sind Verwandte, die man sich auch als Freunde aussuchen würde.

Jetzt ist es so still hier. Die Hunde sind in der Stadt geblieben. Der See liegt im leichten Nebel des Nieselregens. Die Kinder spielen oben auf der Galerie. Ständig poltert etwas auf den Holzfußboden. Sie bewegen sich ganz selbstverständlich in diesem Haus. Und um das Haus herum.

Bis zum Dock am See ist es ein Stück zu laufen. Steile Treppen, dann ein holpriger Weg, der sich den Hang herunter schlängelt. Am Ende ein Stück durch den Wald am See entlang, bis man die Lichtung erreicht. Unser Sohn Emil war es wichtig, diesen Weg alleine zu gehen. Es war wie eine selbst auferlegte Prüfung. Er wollte sich selber beweisen, dass er es alleine schafft. Das er sich nicht fürchtet, wenn niemand vor oder hinter ihm ist. Wir haben ihn ziehen lassen. Immer wieder. IMG_6481

Auch unsere Tochter Ida findet sich alleine zurecht. Sie sitzt im Wald und spielt mit Eicheln. So lange wir in Rufweite sind, bewegt sie sich völlig autark. Sie buddelt mit einer kleinen Schaufel im Waldboden.

Was nehmen wir unseren Kindern, wenn wir in der Stadt leben? Aber was geben wir ihnen, was sie hier nicht bekommen? Wir nehmen ihnen ein Stück Freiheit. Aber wir geben ihnen einen Weg zur Kultur. Die Welt muss unser Garten sein. Die Welt bietet so vieles an Vielfalt, dass wir sie ergreifen müssen. Ich würde mich beengt fühlen, hätte ich das Haus mit Garten in den Randgebieten Hamburgs. Das wäre nicht die Freiheit, nach der ich mich sehne. Im Kopf wäre ich nicht frei.

Hier bin ich frei. Aber ich weiß, dass mich dennoch diese Sehnsucht erfüllen wird, in die Stadt zurück zu kehren. Das ich den Geruch vom Theater vermisse, kleine Buchläden mit Büchern bis unter die Decke, Kunst – überall. Das urbane Gefühl, das Gefühl, dass sich um mich herum etwas bewegt. Ich möchte immer beides – Natur und Stadt – und kann es doch nicht haben. Aber ich kann es vereinen. So wie hier. Ich kann meinen Kindern die Freiheit geben, die über den Gartenzaun hinausgeht. Sie wirklich laufen lassen.

Ida und ich suchen Tannenzapfen. Das Harz klebt an unseren Fingern und später in unseren Haaren. Wir duften danach. Ich würde es am liebsten für immer an mir behalten. Emil fällt Bäume. Hier darf man alles. Und kann man alles. Hier ist niemand, der aufforstet, niemand, der vor uns bereits Bäume markiert hat, für Ordnung sorgt. Hier sorgt die Natur für ihre eigene Ordnung. Und die toten Bäume stehen noch kahl neben den Lebenden. Und warten nur darauf, von Emil gefällt zu werden. Er schiebt und tritt. Er gibt nicht auf, bis die Bäume sich neigen und mal mehr mal weniger krachend ins Unterholz fallen. Er ist stolz. Die Kinder entwickeln sehr viel Stolz in dieser Zeit. Es macht sie stark. Dinge zu erfahren, die sie können. Bäume fällen, weit hinaus schwimmen, alleine rudern, alleine durch den Wald gehen, Feuer machen, schnitzen, sich um die Hunde kümmern.

Emil führt eine Liste mit den Dingen, die er gelernt hat, seitdem wir hier sind. Fast alle haben mit Wald zu tun, mit Feuer und Tieren und Pflanzen. Er weiß, wie man die Krebse am Ufer findet, das man ganz leise auf den Steg gehen muss, wenn man die Fische beobachten will, dass man laut singen muss, wenn ein Bär in der Nähe ist, das man ein Tipi- oder ein Blockhausfeuer machen kann.

Ich frage mich, was ich gelernt habe? Dinge über mich selbst. Ich habe gelernt, wie gerne ich Kanu fahre. Ich hatte das vergessen. Ich habe es Jahre nicht getan. Und nicht mehr für wichtig empfunden.

Ich bin ein Landkind. Ich bin in den Wald gegangen, bis meine Eltern gepfiffen haben. Ich habe Baumhäuser aus dicken Ästen gebaut, ich konnte Kanu fahren und schnitzen. Ich war frei. In einem Reetdachhaus, in dem auch meine Kinder sich Zuhause fühlen. Direkt am Wald und am See. Mit Katzen vor dem Kamin.

Irgendwann werden wir abreisen. Die Kinder bedauern das. Sie wollen am Blue Lake bleiben. Das Einzige, was sie bedauern, ist die Entfernung zu Oma und Opa. Das einzige Argument für sie, nach Hause zurückzukehren. Aber noch sitzen sie abends auf dem Sofa und sehen auf den See hinaus. Sehen, wie die Sonne den Wald gegenüber in warmes Licht hüllt. Und dann die Finsternis kommt. Manchmal schneller, als man denkt.

Wir essen am Lagerfeuer. Die Kinder machen Stockbrot. Aber wenn die Dunkelheit kommt, zieht es sie ins Haus. Wir unterbinden das nicht. Denn Angst schützt sie. Auch später. Wer keine Angst kennt, geht viele Risiken ein. Sie sollen lernen, dass Angst wichtig ist, aber dass sie nicht die Überhand gewinnen darf.

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Das Wetter ist nicht auf unserer Seite. Wir kämpfen mit der Solaranlage. Die Sonne zeigt sich kaum. Tagsüber versuchen wir gar keinen Strom zu verbrauchen, damit wir nachts im Notfall nicht im Stockfinsteren sitzen. Die Kinder streunen trotzdem durch den Wald.

Unten am See suchen sie nach Krebsen. Sie verstecken sich unter den Steinen im flachen Wasser. Ein einsamer Liegestuhl steht hier zwischen den Bäumen. Manchmal zieht Ann sich hierher zurück, wenn das Haus voller Kinder ist.

Einsam ist es hier. Und ganz still.“

Tamara Müller
Als süddeutsche Frohnatur liebe ich die Wärme, die Berge und Hamburg! Letzteres brachte mich vor sieben Jahren dazu, die Sonne im Herzen zu speichern und den Weg in Richtung kühleren Norden einzuschlagen. Ich liebe die kleinen Dinge im Leben und das Reisen. Und auch wenn ich selbst noch keine Kinder habe, verbringe ich liebend gerne Zeit mit ihnen.

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