„Gib der Oma einen Kuss!“ – Warum du dein Kind nie zu Zärtlichkeiten zwingen solltest

Sie haben sich seit Monaten auf das Wiedersehen mit ihrem Enkelkind gefreut. Doch statt mit einer herzlichen Umarmung und stürmischen Begrüßungsküssen, werden Oma und Opa von ihrem Enkel mit misstrauischen Blicken in Empfang genommen. Zu lang ist der letzte Besuch her. Als sich die Oma dann auch noch mit gespitzten Lippen annähert, sträubt sich alles in ihm. Also antwortet es entsprechend deutlich, ob mit Worten oder einer eindeutigen Körpersprache: „Nein! Ich will die Oma nicht küssen!“

Wenn wir als Eltern dann die Enttäuschung auf den Gesichtern der schockierten Großeltern sehen, ist das für uns kaum auszuhalten. Schnell entsteht der Impuls zu sagen: „Ach, jetzt komm, gib der Oma doch ein Küsschen. Sonst ist sie ganz traurig.“

Doch genau da heißt es: Stopp!

Denn für unser Kind ist es in diesem Moment nicht einfach nur ein Küsschen. Unser Kind erlebt ein Gefühl der Abneigung gegen die von ihm erwartete körperliche Nähe. Es löst in seinem Gehirn den Fluchtinstinkt aus, der nun seinen ganzen Körper beherrscht. Ihm jetzt abzuverlangen, diesen Instinkt der Oma zuliebe zu unterdrücken, bringt unser Kind in einen schwierigen Konflikt.

Wenn wir das Nein unseres Kindes in einem solchen Moment jedoch erkennen, respektieren und unterstützen, hat dies gleich mehrere bedeutende Auswirkungen, die nicht nur in diesem Augenblick, sondern ein Leben lang positiv nachwirken können.

1. Verständnis entschärft die Situation mehr, als ein erzwungener Kuss

So schön ein Küsschen von Enkelkind, Neffe oder Nichte auch ist, wenn es erzwungen ist, hat es für alle einen faden Beigeschmack. Der Satz „Jetzt gib halt ein Küsschen!“ führt also nicht nur dazu, dass wir unser Kind einem inneren Konflikt aussetzen. Auch bei der Person, die den Kuss bekommen soll, geht die Enttäuschung wohl eher in Unbehagen über als in die erhoffte Freude.

Als Eltern können wir daher besser vermitteln, indem wir etwa sagen: „Jetzt bist du sicher schüchtern, weil du Oma und Opa schon länger nicht mehr gesehen hast. Ich kann verstehen, dass du deshalb die Oma nicht küssen möchtest. Aber ich bin sicher, ihr werdet ihr euch bald schon wieder ganz vertraut sein, so wie beim letzten Besuch.“

Das dürfte auch die Großeltern sofort erleichtern, denn es nimmt ihnen den Druck, die Situation selbst entschärfen zu müssen und weist ihnen gleichzeitig die Richtung, wie sie am besten mit ihrem Enkel umgehen können.

2. Es gibt den Großeltern die Chance, neues Vertrauen aufzubauen

Den Widerstand des Kindes zu ignorieren und es zu zwingen, seine Instinkte dem Wohlbefinden von Oma und Opa unterzuordnen, kann sich langfristig negativ auf die Beziehung zu seinen Großeltern auswirken. In seinem Gehirn wird das schlechte Gefühl automatisch mit Oma und Opa verknüpft und bei deren nächstem Besuch höchstwahrscheinlich wieder abgerufen.

Wenn alle Parteien jedoch mit Verständnis reagieren, erlebt das Kind sofort ein Gefühl der Erleichterung. Es kann während des Besuchs aus freien Stücken neues Vertrauen fassen und diese im ersten Moment fremden Menschen wieder neu kennenlernen. Die Chancen, dass ihm die Großeltern beim nächsten Besuch dann gleich vertrauter sind, werden dadurch deutlich höher.

3. Es stärkt das Vertrauen zwischen Eltern und Kind

Das Urvertrauen unseres Kindes aufzubauen, ihm ein sicherer Hafen und ein Fels in der Brandung zu sein, ist doch unser größter Wunsch als Eltern. Eine Situation wie diese ist eine tolle Gelegenheit, dieses Urvertrauen zu stärken. Unser Kind befindet sich in einem inneren Ausnahmezustand und es braucht unseren Beistand nun ganz besonders.

Indem wir uns hinter unser Kind stellen und sein Nein unterstützen, schenken wir ihm ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das sich tief in ihm verankern und ihm ein Leben lang Halt schenken wird.

Geben wir unserem Kind Schutz, wenn es ihn verlangt. Das macht stark und selbstbewusst.          © Unsplash / Jordan Whitt

4. Es stärkt das Verhältnis des Kindes zum eigenen Körper

Der Instinkt unseres Kindes, die Oma nicht küssen zu wollen, ist evolutionär bedingt und daher ganz natürlich. Es hat sie lange nicht gesehen und deswegen ist sie ihm einfach fremd. Ihr Anblick, ihre Stimme, ihr Duft sind ihm nicht vertraut. Und das Wort „Oma“ sowie das dazugehörige Verwandtschaftsverhältnis sind für unser Kind noch zu abstrakt, um einen Vertrauensvorschuss zu bewirken.

Sein Instinkt befiehlt ihm deshalb, in Mamas oder Papas Arme zu flüchten und dort vor der (ihm) Fremden Schutz zu suchen. Indem wir unser Kind darin bestätigen, dass dieser Instinkt richtig ist und es selbst nach seinem Gefühl entscheiden darf, wem es seinen Körper anvertraut und wem nicht, stärken wir sein Verhältnis zum eigenen Körper immens. Es lernt: „Mein Körper gehört mir und ich allein darf bestimmen, wer sich mir nähern darf und wer nicht.“

Wird ein Kind im Gegensatz dazu trotz allen Widerstands zum Kuss gezwungen, so signalisiert ihm das: „Meine Instinkte sind falsch. Ich muss sie unterdrücken, sonst mache ich meine Eltern und Großeltern traurig und am Ende haben sie mich nicht mehr lieb.“ Passiert dieses Szenario oft genug, lernt das Kind, die Bedürfnisse anderer über seine eigenen Instinkte zu stellen. Ein verheerender Zustand, der schlimme Folgen haben kann.

5. Es macht das Kind stark gegen sexuellen Missbrauch

Aus einem gestärkten Verhältnis zum eigenen Körper entsteht dagegen langfristig eine wichtige Schutzfunktion: Unser Kind lernt, aus sich selbst heraus zu erkennen, wann es Zärtlichkeiten oder körperliche Nähe zulassen möchte und wann es ihm zu viel wird. Es lernt, dass sein Nein bedeutsam ist und es sich wehren darf, wenn seine Grenzen überschritten werden.

Es weiß außerdem, dass es sich seinen Eltern anvertrauen kann, wenn es sich bedrängt fühlt, ganz egal ob ihm jemand Fremdes oder jemand aus der Familie oder dem Bekanntenkreis zu nahe kommt.

Diese Sicherheit ist es, die unser Kind letztlich stark macht gegen die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs, der in den meisten Fällen von Erwachsenen aus dem engsten Umfeld begangen wird. Unser Kind hat gelernt, zwischen erwünschter und unerwünschter Nähe zu unterscheiden. Es weiß, es darf und soll Nein sagen, wenn sein Instinkt es ihm befielt.

Das Nein eines Kindes zu ungewollten Zärtlichkeiten zu respektieren ist also die beste Art und Weise, es für den Rest seines Lebens gegen körperliche Übergriffe zu wappnen.

Und falls die Verwandtschaft verständnislos auf die Verweigerung des Küsschens reagiert, ist dies sicher das beste Argument, sie umzustimmen.

Laura Dieckmann
Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

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