Meinung: „Bedürfnisorientiert? Nein danke!“

Was sich in den sogenannten bedürfnisorientierten Gruppen abspielt, macht jedem Gruselkabinett Konkurrenz. Da wird verurteilt, belehrt, rausgeekelt und beschimpft.

Man predigt Gewaltfreiheit und zerfleischt sich gegenseitig. Ganz großes Kino!

Dazu muss ich sagen: Ich bin ein Riesenfan des verstorbenen Familientherapeuten Jesper Juul und finde es erschreckend, wie sein gedankliches Erbe in den Gruppen Sozialer Netzwerke ad absurdum geführt wird.

Wenn man zum elitären Kreis der Auserwählten dazugehören möchte, der seinem Nachwuchs eine straf- und schimpffreie Kindheit ermöglichen will, muss man sich an Regeln halten. Wer aus der Reihe tanzt, wird an den Pranger gestellt – statt faulem Obst fliegen weinende und wütende Smileys. Nicht zu vergessen die Worte.

Belehrungen von oben herab, als würde man einem Kind die Welt erklären. Es wird erläutert, was denn nun Bedürfnisse sind und was nicht.

Da ist der verzweifelte Vater, der abends gerne in Ruhe fernsehen würde, anstatt eine dreistündige Einschlafzeremonie durchzustehen. Er wendet sich an die Gruppe und wird prompt zerschlagen. Wie er es wagen kann, so egoistisch zu sein und den Fernsehabend über das Kind zu stellen.

Lauter Stimmen von Menschen, die scheinbar schlechte Erfahrungen in der Kindheit machen mussten und es sich nun zum obersten Ziel erklärt haben, alles besser zu machen.

Daran ist ja erstmal nichts verkehrt.

Aber: Viele sind von Versagensangst getrieben und stellen das Kind an erste Stelle – danach kommt lange nichts. Das führt komplett am eigentlichen Sinn von Bedürfnisorientiert vorbei.

Da geht es nämlich um die Bedürfnisse aller Familienmitglieder. Soll heißen: man sollte sich selbst durchaus wichtig nehmen!

Jedenfalls war der Vater still, nachdem man ihm erklärte, dass Fernsehen kein Bedürfnis ist. Ähnlich verhält es sich mit der Mutter, die gerne in Ruhe essen will, ohne dass der Nachwuchs dabei auf IHREM Stuhl herumturnt. Wieder wird die Situation zerpflückt und analysiert.

Das Ergebnis: In Ruhe zu essen sei kein Bedürfnis – sie solle sich mal überlegen, was wirklich hinter dem Konflikt steckt. Da wird Banalitäten eine völlig unverhältnismäßige Bedeutung beigemessen.

Ganz ehrlich: Für so einen Blödsinn hab ich weder Zeit noch Lust.

Ich bin für Kommunikation auf Augenhöhe, mir ist es wichtig, dass Bedürfnisse anerkannt und erfüllt werden, aber ich stelle mich dafür nicht auf den Kopf.

Bei mir Zuhause dürfen Konflikte laut ausgetragen werden. Wir schreien uns gegenseitig an – gleiches Recht für alle – und es fühlt sich gut an. Unserer Beziehung tut das keinen Abbruch, sondern es stärkt sie. Kommunikation ist vielfältig, das ist nicht 24/7 Gesäusel.

Ich reflektiere und diskutiere. Doch es gibt Dinge, die sind nicht verhandelbar.

Bei mir ist abends um 20 Uhr Schluss. Danach wird weder vorgelesen noch gekocht noch sonstwas. Das ist mein Feierabend, der ist mir heilig und entspricht meinem Bedürfnis nach Ruhe. Es gibt keine Diskussionen. Ich werde mich dafür nicht rechtfertigen, weil ich ein erwachsener Mensch bin.

Und da kommen wir zum Kernproblem von bedürfnisorientierten Gruppen: Die ohnehin schon unsicheren Eltern werden in ihrer Unsicherheit noch bestärkt.

Bloß nicht laut werden, nicht schimpfen, keine Strafen verhängen.

Da ist so viel Angst vor möglichen Fehlern, dass einige passiv werden. Sie können nicht mehr handeln, weil sie total verkopft sind.

Doch es gibt ein paar Mutige, die ihre „Fehltritte“ beichten. In den meisten Fällen erweist sich die Gruppe als gnädig und erteilt dem Sünder Absolution. Hat irgendwie was Sektenhaftes.

WWJD – What would Jesus do?, heißt es bei den Christen. Die bedürfnisorientierten Jünger fragen sich dasselbe, nur ist der Wortlaut anders: „What would Juul do?“ Mit dieser Frage im Kopf laufen sie durch die Welt.

Was ich daran so schlimm finde: Damit wird den Eltern jegliche Kompetenz abgesprochen.

Und Kompetenz ist genau das Stichwort, für das sich Juul so leidenschaftlich einsetzte. Schon seltsam das Ganze.

Die Eltern werden in dem Glauben gelassen, sie seien alleine nicht fähig, richtige Entscheidungen für sich und ihre Familie zu treffen. Sie brauchen etwas zum Festhalten, eine Lehre.

Da kommen die sogenannten bedürfnisorientierten Gruppen ins Spiel. Den Männern und Frauen wird abgesprochen, ihre eigenen Bedürfnisse zu definieren.

Sie sind zutiefst verunsichert und hinterfragen sich permanent. Das hat nichts mehr mit gesunder Selbstreflexion zu tun.

Diese Gruppen fühlen sich so unheimlich stark. Als sei ihr Weg der einzig richtige.

Diesem Pfad gilt es zu folgen – was links und rechts davon liegt, wird nicht akzeptiert. Da heißt es dann: „Kannst du schon machen, ist dann halt Erziehung“ – eine schöne Umschreibung für „was du machst, ist scheiße“.

Und Erziehen, davor hütet sich hier jeder wie der Teufel vor dem Weihwasser.

Bloß nicht in diese Schiene gesteckt werden, dafür tut man alles. Oft sind das Dinge, hinter denen man nicht steht. Man handelt auf eine bestimmte Weise, weil einem gesagt wird, dass das so richtig ist. Weil man mit diesem Verhalten in den Gruppen Anerkennung findet.

Und wisst ihr was? Genau das ist Erziehung!

Die Menschen werden in diesen vorgeblich erziehungsfreien Gruppen zu ,besseren` Eltern erzogen. Absurder geht es nicht. Und es tut mir weh, das mitanzusehen.

Vor allem dient es niemandem. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, die jeden potenziellen Schaden abwenden.

Sie brauchen echte, authentische Menschen, die sich Fehler zugestehen.

Die selbst denken, anstatt sich von anderen sagen zu lassen, was richtig ist.

Die ihrer eigenen Intuition vertrauen und Dinge einfach machen, weil es sich für sie stimmig anfühlt – unabhängig davon, ob das jetzt mit irgendwelchen Lehren konform ist oder nicht.

Ich schreibe das für die Mutter, die einfach nur in Ruhe Essen will und sich nun Gedanken macht, ob sie sich das selbst zugestehen darf.

Für den Vater, der seinen geliebten Fernsehabend sausen lässt, weil eine Gruppe sagte, das sei kein ernstzunehmendes Bedürfnis.

Liebe Eltern, traut euch was zu. Eure Kinder sehnen sich danach, dass ihr eure Kompetenz fühlt und lebt.

Auch wenn das nicht einfach ist. Auch, wenn das bedeutet, dass es kracht und unfair zugeht. Kinder haben ein Recht auf wütende Eltern.

Ihr müsst sie davor nicht bewahren, weil das die Facetten des Lebens sind.“

Liebe Constanze, vielen Dank für diesen Gastbeitrag!

Constanze Wilz

Constanze Wilz Foto; privat

Constanze Wilz ist Mutter eines Sohnes, Journalistin und Bloggerin.
Sie bezeichnet sich selbst als „Anti-Heldin unter den Müttern“ und betreibt den Mamablog mutter-sprach.de.
Außerdem ist sie als „Bad Influencerin“ auf Instragram (@muttersprach) und Facebook (Mutter-sprach.de) unterwegs.

Laura Dieckmann

Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

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Insa
Insa
11 Monate zuvor

Sehe ich genauso- ich schreibe allerdings noch meine Meinung, weil ich vieles so überhaupt nicht verstehen, warum z.B. sämtliche Bedürfnisse sofort und nicht aufschiebbar erledigt werden müssen. Im ersten Jahr verstehe ich das ja sogar noch, aber bis man 18 ist? Oder das Elterndates nicht mehr stattfinden können, weil es keine Babysitter gibt?
Juul hat doch gesagt, dass Kinder ihre Eltern kennen lernen möchten und das gilt doch auch für ihre Bedürfnisse. Das geht doch nicht ohne Konflikte ab, das ist doch klar! Aber nur so können doch Kinder auch lernen, zu warten und Bedürfnisse aufzuschieben…

Birgit
Birgit
2 Jahre zuvor

Sehe ich genauso. Als Eltern soll man mit den Kindern leben und nicht für die Kinder. Kinder sind nicht der Nabel des Universums, sondern ein Teil der Gesellschaft. Ansonsten ist man irgendwann genervt und vergisst sich selbst. Nur ausgeglichene Eltern sind gute Eltern. Lest nicht so viel und hört wieder mehr auf euer Bauchgefühl.

Stppnwlfn
Stppnwlfn
2 Jahre zuvor

Ich stimme in vielem zu, das Internet kann wirklich grausam sein und Themen ad absurdum führen. Gleich die ganze Idee hinter dem Bedürfnisorientierten zu verteufeln finde ich aber genauso wenig sinnvoll. Es bedeutet eben nicht „erziehungsfrei“. So zu polarisieren spaltet nur noch mehr und schafft große Kluften. Stattdessen wäre es schön zu versuchen Eltern zusammen zu bringen und nicht eine Richtung zu verurteilen, welche auch immer.

Maderl
Maderl
2 Jahre zuvor

Danke!
Ich lese auch viel in bedürfnisorientierten Gruppen, schreibe aber nichts, weil ich keine Lust habe, zerfleischt zu werden. Die Idee bzw der Grundgedanke an bedürfnisorientiert gefällt mir – genauso wie der Religionsvergleich hier. Auch bei vielen Religionen ist der Grundgedanke ein guter (zusammenleben zu ermöglichen), aber die Umsetzung ist mangelhaft.
Unsere Kinder sind noch sehr klein ( 1 ½ und 3), aber auch hier arbeiten wir daran, dass wir alle Bedürfnisse haben. Es ist noch nicht ganz einfach, dass die Kleinen das akzeptieren, aber ich bin zuversichtlich, dass es irgendwann klappt 😅

Ursula
Ursula
2 Jahre zuvor

Liebe Constanze, du sprichst mir aus dem Herzen. Am schlimmsten finde ich, dass auch von der Umwelt erwartet wird, die Bedürfnisse der Kleinen auch noch zu erkennen und natürlich zu stillen! Ich habe eine schwere Kindheit hinter mir, und ich bin wahnsinnig stolz, meine Kinder nicht mit physischer und psychischer Gewalt erzogen zu haben. Sie haben gelernt, ihre Bedürfnisse zu erkennen, aber auch die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen. Das geht nur über viel Kommunikation! Heute sind es zwei wunderbare, starke Frauen. Auf meine Frage, ob sie sich bedürftisorientiert erzogen fühlen, konnten beide dies nur bejahen. Sie meinten aber, sie hätten auch gelernt, dass mal ein Bedürfnis zurückgestellt werden muss

Anonym
Anonym
3 Jahre zuvor

Interessanter Artikel, kann ich zum Teil bestätigen. Allerdings finde ich es schade, dass die Überschrift absolut irreführend gewählt wurde.