Leben mit autistischem Kind: „Meine Tochter hat keinen Filter“

„Ich bin die Mama von Amelie, die inzwischen stolze acht Jahre alt ist. Amelie war von Anfang an etwas anders als die anderen Kinder. Sie ist ein Kind im Autismus-Spektrum, Amelie hat das Asperger Syndrom.

Jedes Kind im Autismus-Spektrum hat zu einem gewissen Grad Schwierigkeiten mit sozialen Kompetenzen, Kommunikation und Flexibilität im Verhalten. Doch jedes autistische Kind ist anders, hat ganz individuelle Fähigkeiten. Ich glaube, die meisten Mamas können mittlerweile etwas mit dem Begriff ‚Autismus‘ anfangen, aber ich möchte erzählen, wie es wirklich ist, wenn das Kind keinen Filter hat, denn das beschreibt für mich am besten Amelies Besonderheit.

Andere staunten oft, wie ruhig Amelie als Baby war

Meine kleine Amelie war ein ruhiges Baby, sie weinte sehr selten (vielleicht zu selten) und konnte sich schon sehr früh gut alleine beschäftigen. Oft spielte sie stundenlang mit ihren Bauklötzen und schien dabei wunschlos glücklich. Familie und Freunde staunten oft, wie pflegeleicht sie war. Aber dafür vielleicht ein bisschen schüchtern?

Und tatsächlich, Amelie schien den Kontakt zu anderen Menschen nicht nur weniger zu benötigen als andere Kinder, manchmal kam es mir vor, als würde sie ihn meiden. Besonders mit Fremden ging sie keinen Blickkontakt ein und reagierte wenig bis gar nicht, wenn diese mit ihr spielen wollten. Manchmal kam mir das seltsam vor, aber sie ist mein erstes und einziges Kind und da meine Kleine im Großen und Ganzen einen glücklichen Eindruck machte, dachte ich nicht viel darüber nach.

Sie wollte nicht sprechen

Dann tauchten Schwierigkeiten auf: Während alle anderen gleichaltrigen Kinder sich längst an den ersten Worten versuchten und mit ihnen ihren Wünschen Ausdruck verliehen, ahmte Amelie nur verschiedene Geräusche nach. Sie konnte beim Spielen stundenlang den Staubsauger imitieren (das allerdings ziemlich überzeugend), aber wollte einfach nicht mit mir sprechen. Außerdem fiel mir auf, dass sie weniger ‚Entdeckerdrang‘ zu haben schien als andere Kinder. Amelie war immer am glücklichsten in ihrer Spielecke im Wohnzimmer.

Eines morgens räumte ich ihre Spielsachen auf und stellte dabei auch ein paar Dinge um, räumte Kisten weg und platzierte neue Sitzkissen. Als ich dann Amelie aus dem Bett holte und sie ihre neue alte Spielecke erblickte, schrie sie gellend auf und warf sich auf den Boden. Stundenlang konnte ich sie nicht beruhigen, entnahm ihrem Verhalten aber, dass es die Veränderung war, die sie so aufwühlte. Diese Situation war gemeinsam mit ihrer verzögerten Sprachentwicklung eigentlich ausschlaggebend dafür, dass ich mir Rat holte.

Wir bekamen eine Diagnose

Zunächst sprach ich ihren Kinderarzt darauf an, er überwies uns dann an eine Expertin für Entwicklungsstörungen und irgendwann stand die Diagnose dann fest. Zunächst war ich geschockt, ich wusste einfach nicht, was das für uns bedeuten würde. Ich wünschte mir einfach nur, dass bei uns alles ‚ganz normal‘ ist und hatte Angst, dass meine Tochter nie so ein glückliches und unbeschwertes Leben führen würde, wie andere Kinder.

Mittlerweile weiß ich zum Glück, dass das Schwachsinn ist. Wer oder was ist denn schon ‚normal‘?! Wir werden doch alle durch unsere „Macken“ und Eigenarten einzigartig und liebenswert. Trotzdem kann sich bestimmt jede Mama vorstellen, wie glücklich ich war, als auch mein Kind nach einem Jahr Sprachtherapie endlich mit mir kommunizierte. Das erste Wort war übrigens ‚Teddy‘. Sie hat seit der Geburt einen kleinen Teddybären aus Stoff, der in ihren ersten Lebensjahren ihr ständiger Begleiter war und noch heute seinen festen Platz in ihrem Bett hat.

Routinen und feste Rituale sind wichtig für Amelie

Immer noch sind feste Plätze wichtig für Amelie, bei ihr muss buchstäblich ‚alles seine Ordnung haben‘, ihr Tag folgt einer strengen Routine, deren Unterbrechung für sie nur sehr schwer zu ertragen ist. Ich als Mama habe gelernt, das zu akzeptieren und versuche unnötige Veränderungen von ihr fernzuhalten. Bevor meine Kleine eingeschult wurde, hatte ich große Angst, dass sie keinen Anschluss findet oder die neue Situation sie überfordert. Doch zum Glück mag Amelie die Schule, alles folgt einem klaren (Stunden-)Plan und es fällt ihr leicht zu lernen. Trotzdem bringt sie das Asperger-Syndrom manchmal an ihre Grenzen.

Zum Beispiel, wenn ihre Lehrerin das Lied von Pippi Langstrumpf anstimmt und die ganze Klasse fröhlich singt: ‚3 x 3 macht 6…‘ Für Amelie ist das kaum auszuhalten. Schließlich weiß sie ganz genau, dass 3 x 3 nicht 6 ergibt. Überhaupt, Zahlen faszinieren meine Tochter ganz besonders.

Neulich fragte sie mich, wie alt Menschen werden können, nur um dann wenig später den verdutzten Nachbarn ihre verbleibende Lebenszeit vorzurechnen. Ein anderes Mal hörte ich ein Gespräch zwischen ihr und ihrem Cousin mit an: Er erzählte gerade freudig von einem Urlaub in den Sommerferien, als meine Tochter ihn energisch unterbrach: ‚Ihr könnt nicht in den Urlaub, weil Urlaub Geld kostet. Dein Papa hat aber keine Arbeit mehr und deswegen habt ihr kein Geld.‘

Diplomatie und Smalltalk ergeben in ihrer Welt keinen Sinn

Natürlich hat Amelie dabei keinen bösen Hintergedanken, sie versteht nicht, dass die Wahrheit manchmal nicht das ist, was wir hören wollen oder sogar verletzend sein kann. Kurz gesagt: Diplomatie oder Smalltalk ergeben in ihrer Welt keinen Sinn. Ich als ihre Mama weiß, dass sie trotzdem ein liebevoller Mensch ist, der um das Wohl seiner Mitmenschen besorgt ist. Nur kann sie das nicht so zeigen oder ausdrücken, wie wir es gewohnt sind.

Schon oft hat mich Amelies scheinbare Unverfrorenheit in die komischsten Situationen gebracht. Manchmal kann ich darüber lachen, manchmal ist mir eher zum Weinen zu Mute. Trotzdem liebe ich meine Tochter und ihre starke und aufrichtige Persönlichkeit über alles und bin stolz darauf, wie sie sich entwickelt. Wahrscheinlich genauso, wie alle anderen Mamas auch, da macht es am Ende des Tages gar keinen großen Unterschied, ob das Kind Asperger hat oder nicht.“

Liebe Nicole, vielen Dank, dass Du Deine Geschichte mit uns geteilt hast. Wir wünschen Dir und Deiner Familie alles Liebe!

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Lena Krause
Ich lebe mit meinem kleinen Hund Lasse in Hamburg. Am liebsten erkunde ich mit ihm die vielen grünen Ecken der Stadt. Auch wenn ich selbst keine Mama bin, gehören Babys und Kinder zu meinem Leben dazu. Meine Freundinnen machen mir nämlich fleißig vor, wie das mit dem Mamasein funktioniert und ich komme als „Tante Lena“ zum Einsatz. Schon als Kind habe ich das Schreiben geliebt – und bei Echte Mamas darf ich mich dabei auch noch mit so einem schönen Thema befassen. Das passt einfach!

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