Schwelende Streits, belastende Gefühle und toxische Verhaltensmuster – vermutlich würden die meisten von uns ihre Beziehung zu den eigenen Eltern als völlig unbeschwert bezeichnen. Ein wirklicher Kontaktabbruch zu den Eltern fällt aber dennoch den Wenigsten leicht. Und doch kann es manchmal ein wichtiger Schritt sein, um seine eigene Psyche und unter Umständen auch die der eigenen Kinder zu schützen.
In einem Interview mit dem Business Insider hat der amerikanische Psychologe Dr. Joshua Coleman nun aber dafür plädiert, dass ein Kontaktabbruch zunächst immer als etwas Temporäres angesehen werden sollte. Wenig oder kein Kontakt zu den eigenen Eltern muss demnach keine Sackgasse sein.
Viel eher sollte man nach einer gewissen Zeit eine Bestandsaufnahme der Situation machen und überprüfen, ob und was sich vielleicht verändert hat.
Wenn du also den Kontakt zu einem oder beiden Elternteilen stark reduziert oder gar eingestellt hast, aber sie dennoch in deinem und eurem Leben vermisst, kann es auch einen Weg zurück geben. Grundsätzlich hält der Psychologe eine Versöhnung immer für die beste Lösung für alle Beteiligten. Trotzdem betont er aber auch, dass das nicht immer möglich ist.
Diese drei Anzeichen können laut Dr. Coleman aber dafür sprechen, dass eine Wiederannäherung funktionieren kann:
1. Können deine Eltern Verantwortung übernehmen?
Versuche unvoreingenommen und mit einem klaren Blick auf deine Eltern zu schauen. Zeigen sie Bereitschaft, an der Beziehung zu arbeiten, indem sie ihr eigenes Verhalten reflektieren? Dabei können auch schon kleinste Hinweise als positiv gewertet werden.
Sie sollten laut Coleman zum Beispiel nicht sofort in den Verteidigungsmodus schalten, sondern Verantwortung für ihr Handeln und die Vergangenheit übernehmen: „Sie müssen in der Lage sein zu sagen: Es ist klar, dass ich Fehler begangen habe, bei denen mir aber damals nicht bewusst war, dass sie sich für dich wie emotionaler Missbrauch angefühlt haben. Trotzdem bin ich nun froh, dass du mich darauf hingewiesen hast. Das ist etwas, woran ich arbeiten kann.“
Ein Brief, in dem man seinen Wunsch und Willen zum Ausdruck bringt, sich aktiv mit der Beziehung auseinanderzusetzen, kann zum Beispiel der erste Schritt sein, um den Kontakt wieder aufleben zu lassen.
2. Kenne deine eigenen Grenzen!
Ein temporärer Kontaktabbruch und der Fokus auf anderen Themen, kann oft auch helfen, sich verstärkt mit sich selbst auseinander zu setzen. Vielleicht hast du in der Zeit viel über dich gelernt und kannst nun besser einschätzen, welche Gefühle du für dich einordnen kannst oder welche Verletzungen zu tief gehen.
Bevor du einen Elternteil mit dir bekannten negativen Verhaltensweisen wieder in dein Leben lässt, solltest du dir deiner eigenen Grenzen sicher sein und diese auch ziehen können. „Sicherheit hat mit eurem inneren Maßstab zu tun: Was ihr tolerieren könnt und was nicht“, sagt Coleman.
Und: Es kann sein, dass du merkst, dass dich gewisse Verhaltensweisen und Dynamiken in eurer Beziehung auch nach einer erneuten Kontaktaufnahme noch belasten. In dem Fall ist es laut dem Psychologen aber auch völlig in Ordnung wieder (temporär) auf Abstand zu gehen.
3. Wie stark und gesund sind deine anderen Beziehungen?
Egal ob in deiner Paarbeziehung, zu Freunden oder auch Arbeitskollegen – Je besser und emotional sicherer du dich in anderen Beziehungen fühlst, desto eher bist du bereit, auch eine schwierige Beziehung zu deinen Eltern wieder aufzunehmen. Beobachte dich selbst: Bin ich in der Lage in den anderen Beziehungen auch mit Kritik oder negativen Gefühlen gut umzugehen, ohne verletzende Äußerungen direkt zu verinnerlichen? Wenn ja, dann spricht das dafür, dass dir diese emotionale Stärke und Widerstandsfähigkeit auch im Kontakt zu deinen Eltern zugute kommt.
Immer mehr Menschen brechen den Kontakt zu ihren Eltern ab
Umfragen zeigen immer wieder, dass die Zahl derer, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, in den letzten Jahren ständig steigt. Allein in Amerika gaben 2022 etwa ein Viertel der befragten Erwachsenen laut Coleman an, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater haben. Sechs Prozent sagten zudem, dass sie von ihren Müttern entfremdet lebten. Missbrauch gilt dabei als der häufigste Grund des Kontaktabbruchs.
In dem Zuge räumt der Psychologe jedoch ein, dass auch der rasante Wandel vom Verständnis von Missbrauch über die letzten Jahrzehnte eine große Rolle spielt. Denn was vor ein oder zwei Generationen noch eher als „normal“ galt, wird heute als missbräuchlich oder schädlich angesehen. „So kommt es oft zu Missverständnissen zwischen den Generationen, wenn das erwachsene Kind sagt: „Du hast mich emotional missbraucht, du hast mich verletzt, du hast mich vernachlässigt“, erklärt der Psychologe.
Vor allem wenn Eltern dann entgegneten „Ich bin mit missbrauchenden Eltern aufgewachsen, du hattest keine missbräuchliche Kindheit“, ist der Konflikt und das mangelnde Verständnis auf beiden Seiten quasi vorprogrammiert.