„Wir sehen bei den schulärztlichen Untersuchungen ganz deutlich: Viele Kinder bringen grundlegende Alltagskompetenzen nicht mit“, warnte der Schulpsychologe Klaus Seifried im Interview mit Echte Mamas. Eine alarmierende Aussage, aber muss man sie einfach so hinnehmen? Es gibt schließlich Fähigkeiten, die Kinder heute viel besser entwickeln als früher – nicht trotz, sondern teilweise wegen der modernen Lebens- und Lernbedingungen.
Kinder erlernen andere Kompetenzen als früher
Wenn man Kinder heute beobachtet, fällt auf: Nicht alles, was früher selbstverständlich war, wird automatisch gelernt – aber dafür entwickeln Kinder andere Fähigkeiten schneller und intensiver. Das glaubt zumindest Nikolai Hebben, Vater einer 8-jährigen Tochter und Kindertagespflegeperson in Iserlohn, NRW.
„Aus meiner Arbeit mit Kindern heraus weiß ich, dass Fähigkeiten besonders in der frühkindlichen Entwicklung sehr individuell sind“, sagt Nikolai Hebben. Der 45-jährige erlebt täglich, wie unterschiedlich Kinder sich entwickeln – und worin sie heute oft deutlich stärker sind als frühere Generationen.
Was also können Kinder heute insgesamt besser?
Hebben nennt vor allem die Fähigkeit, elektronische Geräte zu bedienen: „Während ich lange mit der Androhung von Strafe davon abgehalten wurde, der Stereoanlage meines Vaters auch nur zu nahe zu kommen, ist der Umgang mit Smartphone, Tablet und Co. selbst für die Kleinsten heute normaler Teil des Großwerdens.“ Kritische Aspekte dieser Entwicklung außenvorgelassen, seien Kinder heute viel besser darauf vorbereitet, mit der immer schneller fortschreitenden Technik Schritt zu halten.
Auch in der Sprache haben Kinder Hebben zufolge Fortschritte gemacht. Zum einen durch den steigenden Anteil zweisprachig erzogener Kinder und das frühe Erlernen von Fremdsprachen in der Schule. Zum anderen durch eine Abkehr vom autoritären Erziehungsstil: „Wo früher ein Widerspruch bestenfalls zurückgewiesen wurde, erhalten Kinder heute eine eigene Stimme, dürfen argumentieren und mitbestimmen.“ Ob beim Aushandeln von Regeln zu Hause oder in Kinder- und Schülerparlamenten in Kita und Schule – Kinder können heute besser argumentieren und rhetorisch überzeugen.
„Kinder sind heute besser und früher politisch informiert.”
Ein weiterer Unterschied zeigt sich im Spiel: Kinder seien heute oft selbstständiger, erzählt Hebben. „Zumindest dort, wo Kindern freies Spiel ermöglicht wird, sind sie viel mehr in der Lage, ihre eigenen Ideen einzubringen und umzusetzen, anstatt sich starr an Vorgaben der Erwachsenen zu halten.“ Er erinnert sich an zwei Mädchen, die sich jeweils eine kleine Schubkarre über den Kopf stülpten, um wie Hirschkäfer mit den Griffen spielerisch zu fechten – und dabei völlig selbstständig ein neues Spiel erfanden.
Auch die Mediennutzung hat ihre Vorteile: „Mit der massiven und ständigen Verfügbarkeit von Informationen sind Kinder heute viel früher und intensiver politisch interessiert“, erklärt Hebben.
Früher war alles besser? Nicht unbedingt!
Abschließend fasst er in einem Leitgedanken zusammen, den er nach Jesper Juul abgewandelt nutzt: „Kinder, die was dürfen, werden Erwachsene, die was können. Wer Kinder toben, laufen und klettern lässt, erhält motorisch fitte Kinder. Wer Kinder früh in der Küche schnibbeln lässt, wird später weniger Schnittwunden verarzten müssen. Wer mit Kindern diskutiert, statt ihnen den Mund zu verbieten, bekommt ein wortgewandtes Kind. Und wer Kinder einfach spielen lässt, kann jederzeit bestaunen, wie selbstständig und kreativ sie sein können.“
Kinder bringen heute vielleicht nicht alles mit, was früher selbstverständlich war – aber dafür entwickeln sie andere Fähigkeiten, die ihnen im Alltag sehr helfen: digitale Skills, Sprachstärke, Selbstständigkeit und Kreativität. Wer Kinder ausprobieren, spielen und mitbestimmen lässt, stärkt genau diese Kompetenzen.

Nikolai Hebben Foto: privat
Mehr über Nikolai und seine Arbeit erfahrt ihr auf der Website seiner Kindertagespflege.