Jenseits der Männlichkeitsnorm: So ermutigen wir Jungs, Gefühle zuzulassen

Toxische Männlichkeit wird oft beklagt – und in der Erziehung doch immer wieder reproduziert. Wie kann man den Teufelskreislauf also stoppen?

Diese Frage hat die Journalistin Anne Dittmann nicht losgelassen, seitdem sie vor rund zehn Jahren selbst einem Jungen zur Welt gebracht hat. In ihrem neuen Buch „Jungs von heute, Männer von morgen“ erklärt sie, was unsere Söhne für eine gleichberechtigte Zukunft von uns brauchen.

Im Podcast-Interview mit Echte Papas erzählt Anne, weshalb sie sich in der Schwangerschaft lieber ein Mädchen gewünscht hat, warum Jungs selbst von Feministinnen mit mehr Härte erzogen werden, wie wir unseren Kindern den Zugang zu ihrer ganzen Gefühlspalette ermöglichen, was es mit dem Prinzip „Action Love“ auf sich hat und weshalb Männer mehr weibliche Kumpels benötigen.

Hier könnt ihr direkt reinhören:

Und hier liest ihr schon einmal ein paar Tipps, wie man Jungs in ihrer Erziehung so unterstützen kann, dass sie lernen, Gefühle zuzulassen:

„Eigentlich hatte ich mir immer eher eine Tochter gewünscht. Und zwar aus dem Grund, dass ich bei ihr genau gewusst hätte, wie ich sie empowern soll. Ich dachte, bei einem Mädchen hätte ich irgendwie einen Paarplan und wüsste, wie ich es feministisch erziehen kann. Nämlich ungefähr auch so, wie ich erzogen wurde. Ich bin ja ostsozialisiert, meine ganze Familie kommt aus dem Osten. Meine Großmütter, die eine war Ingenieurin, die andere Zahnärztin, die haben alle immer gearbeitet, alle Vollzeit gearbeitet, waren alle unabhängige Frauen. Deswegen bin ich da so hineingewachsen, wie man das macht.

Und für einen Jungen hatte ich einfach keinen Fahrplan. Da war ich ratlos.

Wenn ich mir einen Jungen vorgestellt habe, konnte ich damit einfach nicht so viel anfangen. Damit, wie Männer so sind, mit der Gewalt und mit diesen einseitigen Interessen und Fußball und Autos und so weiter. Diese ganzen Klischees haben sich vor meinem inneren Auge abgespult und ich dachte, nee, da habe ich keine Lust drauf.

Naja, und dann zeigte sich, dass ich einen Sohn bekommen würde. Da musste ich dann auch tatsächlich erstmal einen emotionalen Zugang zu finden, das tat mir selbst total leid. Aber ich war wirklich innerlich zerrissen und dachte, dass ich mich selber nicht mehr so freuen kann, nur weil mein Kind nicht so ist, wie ich mir das gewünscht habe. Ich wollte das auch gar nicht fühlen.

Ich habe mir dann vorgestellt, wie mein Baby da so total unbedarft so in meinem Bauch herum schwimmt und wie es sich einfach freut, am Leben zu sein. Sowas Kleines, Zartes, weg von all diesen Männlichkeitsklischees und Gedanken.

Und habe dann gedacht, ich kann dich von allen Klischees, die ich halt irgendwie so abgespult habe, trennen.

Du bist ein ganz eigenes Wesen da in meinem Bauch und hast mit der Gesellschaft jetzt erstmal nicht viel zu tun. Und das hat mich dann schon so innerlich so berührt, dass ich dann doch meinen Zugang finden konnte.

Diese Situation ist inzwischen zehn, elf Jahre her. Und ich lebe mit diesem Jungen und kann sagen, das ist komplett anders, als all meine Befürchtungen mir das vorher erzählen wollten. Mein Sohn hat vielseitige Interessen, ist total liebevoll und zärtlich und emotional. Er guckt gerne Fußball, lackiert sich aber auch gerne die Nägel.

Ich habe mir mit der Zeit gedacht, dass es eben keine Ratgeber gibt für diesen Fall. Keine Anleitung, wie man Jungs gut jenseits der Männlichkeitsnormen erzieht. Ich habe zwar mal ein Reel gesehen auf Instagram, wo über Jungenerziehung gesprochen wurde. Da habe ich aber gemerkt, in der feministischen Bubble, da gibt es oft so eine Härte Jungen gegenüber. Ich habe mehrere Reels gesehen, in denen Jungsmüttern gesagt wird: ,Tja, das muss der Junge dann einfach mal aushalten!´und ,Mädchen geht es doch noch schlechter!‘ und so weiter.

Und dann denke ich mir, das kann nicht der Weg sein. Dass wir jetzt irgendwie Jungs zu Feministen erziehen wollen, indem wir ihnen sagen, das hältst du jetzt einfach mal aus. Das ist doch genau die Härte, von der wir weg wollen. Deswegen habe ich mir gedacht, es braucht unbedingt einen Ratgeber für die ganzen Feministinnen, der halt einfach zeigt, was ist denn wirklich ein gangbarer Weg, der auch eine andere Perspektive offenbart.

Ein großes Thema ist es dabei natürlich, wie man seine Jungs dazu bekommt, mehr zu fühlen, als es die Schublade vorsieht – und auch Verantwortung für seine Gefühle zu nehmen.

Letzteres kann man natürlich nur, wenn man sie fühlen und reflektieren und einordnen kann. Das heißt, diese Kompetenz müssen wir Jungen vermitteln. Während meiner Recherche zum Buch habe ich mit Kleinkindpädagogin und Autorin Susanne Mierau dazu gesprochen. Ich dachte vorher ja immer, dass die Kinder von Geburt an so eine komplette Bandbreite an Gefühlen hätten. Und wir Erwachsenen diese mit unserer Erziehung quasi entweder erhalten oder zerstören können. Susanne hat mir erklärt, dass das nicht so ist. Am Anfang haben Babys erst mal nur Affekte, also kurze, intensive Gefühlsregungen: Etwas ist gut oder etwas ist schlecht und entweder freue ich mich oder ich schreie.

Und wir Eltern sind quasi dafür verantwortlich, aus diesen Affekten komplexe Emotionen zu machen, beziehungsweise unseren Kindern dabei zu helfen, sie zu entfalten. Dabei kommen wir nicht darum herum, über Gefühle zu sprechen. Die Gefühle unsere Kinder, wenn sie da sind, auch wirklich wahrzunehmen und dem Kind dann zu sagen: ,Oh, jetzt bist du wütend, oder?‘ Oder traurig.

Als Susanne das erzählte, da habe ich an meinen eigenen Sohn gedacht und wie hilfreich es tatsächlich war, wenn ich seine Gefühle benannt habe, als er noch so klein war, dass er sich nicht richtig mitteilen konnte.

Mit zwei oder drei kommen Kinder eben nicht an und sagen: ,Mama oder Papa, ich bin gerade sehr wütend!‘, sondern die schreien dann halt einfach.

Ich habe dann beobachtet, was vielleicht gerade passiert ist, dass er sein Kuscheltier hat fallen lassen beispielsweise. Oder ich musste ihm etwas wegnehmen, weil es irgendwie spitz war.

Und er hat geschrien und dann habe ich erstmal gesagt, du bist gerade wütend oder bist du gerade traurig? Und dann hat man in seinem Gesicht erkannt, dass es vom Schreien zum Nachdenken wechselte. Und dann konnten wir plötzlich darüber sprechen.

Es ist total wohltuend für Kinder, wenn sie gesehen werden in dem, was sie fühlen und wenn wir Erwachsene das dann auch ausdrücke. So können sie dann tatsächlich an ihre Gefühlswelt andocken und verknüpfen auch tatsächlich: ,Aha, das, was ich gerade fühle mache, das ist anscheinend Wut!‘

Wenn wir als Eltern nur in der Lage sind, drei verschiedene Gefühle zu benennen, dann werden sie auch ihr Inneres nur mit drei verschiedenen Vokabeln verknüpfen.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir da wirklich auch facettenreich anbieten:

,Bist du gerade eifersüchtig?‘

,Schämst du dich gerade?‘

,Bist du gerade frustriert oder wütend oder traurig?‘

Mein Sohn ist ja inzwischen ein Schulkind und er kann jetzt auch wahrnehmen, wenn er verschiedene Gefühl gleichzeitig fühlt.  Also er freut sich, er kann zur selben Zeit auch traurig sein. Es ist wirklich das Reden, Reden, Reden über Gefühle, so kann man das wirklich gut mit seinen Kindern üben. Was ist das für ein Gefühl, heißt das oder so?

Aber selbst, wenn man seinem Sohn das gut mitgegeben hat, ist der Männlichkeitsdruck manchmal so groß, dass die Jungs diese ,Gabe‘ im Alter von acht, neun, zehn Jahren einfach wieder verkümmern lassen.

Das war ja zumindest in vorangegangenen Generationen immer üblich.

Die Sorge vieler Eltern ist sicherlich, dass ihr Sohn in die Kita kommt, wo er dann irgendwie ausgelacht wird, wenn er weint. Oder er kommt in die Grundschule da beginnt es mit der großen Scham. Wenn man ,immer noch‘ weint, wenn man sich weh tut. Als müsste man sich das doch mal mit dem Alter dann mal abtrainieren und sonst ist man irgendwie zurückgeblieben oder sowas. Dabei ist doch das Gegenteil der Fall! Auch ich habe schon beobachtet, dass mein Sohn in Gegenwart seiner Freunde irgendwie seine Gefühle unterdrückt..

Aber ich glaube, dass das A und O ist, dass wir unseren Kindern trotzdem immer weiter Räume erhalten – und wenn das einfach die eigenen vier Wände sind – oder unsere Beziehung so gestalten, dass sie dort weinen dürfen. Mein Sohn hatte mal einen Konflikt auf dem Spielplatz, er musste weinen und wollte dafür mit mir auf die Toilette gehen. Dort habe ich ihn in den Arm genommen und er konnte sich ausweinen.  Er weiß, dass bei mir weinen einfach geht.

Und ich glaube, das ist der große Knackpunkt, dass Jungen weiterhin diese Erfahrung machen dürfen, immer wieder in gewissen Räumen, dass sie da sicher sind und da weinen dürfen, damit sie nicht vergessen, wie sich das anfühlt.

Ich denke, dass es einen großen Unterschied macht, auch wenn sie dann erwachsen sind und wissen, da ist ein Raum, da darf ich weinen. Beziehungsweise da habe ich einfach die Erfahrung gemacht, wie erleichternd das ist, sich einfach mal ausweinen zu dürfen, in den Arm genommen zu werden, wie schön sich das anfühlt, wie geborgen sich das anfühlt. Es ist ganz wichtig, dass wir unseren Söhnen diese Erinnerung mitgeben: Wie ist denn das, wenn ich so sein darf, mit all meinen Gefühlen, die halt gerade da sind. Dann ist auch die Chance groß, dass sie sich Menschen in ihrer Umgebung suchen, Freundschaften und Beziehungen schaffen, wo das ebenfalls möglich ist.

Einen Tipp habe ich noch für alle Eltern, die das Gefühl haben, dass sie mit ihren Söhnen nicht einfach so am Tisch sitzen und über Gefühle sprechen können. Das Stichwort aus der Psychologie dazu heißt ,Action Love‘.

Und es geht darum, den Jungs Brücken zu bauen. Das ist wichtig, wenn die Männlichkeitsnormen bei einem Jungen schon tief sitzen und mehr greifen. Dann setzt man da an, an dem Erfahrungshorizont des Kindes und an seinen Wertevorstellungen und seiner Idee, wie er als Junge anscheinend zu sein hat. Und dann holt man ihn ,rüber`.

Das heißt in der Praxis zum Beispiel, man macht gemeinsam Sport, einen kleinen Roadtrip oder oder… Und dann kann man mal fragen: ,Wie läuft es denn eigentlich in deiner Freundschaft?‘ Oder: ,Du wirktest irgendwie übrigens vorhin so ein bisschen traurig, war irgendwas?‘ und dann schnell den Ball zurückwerfen, am Autoradio fummeln und sowas. Also eine Umgebung schaffen, in der sie sich wohlfühlen. Und ein bisschen männlich. Es braucht irgendwie so ein bisschen die Atmosphäre, in der die Männlichkeit nicht zu sehr angegriffen wird, damit ein Wohlgefühl geschaffen wird. Und dann bieten wir eben an, über Gefühle zu sprechen. Und das hilft auf jeden Fall dabei, in Kommunikation zu bleiben mit den Kindern.“


Den Rest des Gesprächs hört ihr in der Echte Papas-Podcastfolge mit Anne.

Anne Dittmer

Anne Dittmann Foto: Birte Filmer

Anne Dittmann studierte Journalistin, Autorin und Speakerin. Sie schreibt und spricht – immer mit einer intersektional feministischen, also diskriminierungssensiblen Haltung – über Themen wie Erziehung, Söhne & Männlichkeit, Mutterschaft, Alleinerziehende, Getrennterziehende, Kinderrechte… Mehr über Anne erfahrt ihr auf ihrer Website.

Ihr aktuelles Buch:

„Jungs von heute, Männer von morgen. Was unsere Söhne für eine Gleichberechtigte Zukunft von uns brauchen“ von Anne Ditmann, Kösel, 18 Euro.

Laura Dieckmann

Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

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