„Sie schämte sich so sehr für ihr Kind, dass sie den Kontakt abbrach“

Wir waren nur Nachbarinnen um zwei Häuserecken. Nicht unbedingt befreundet. Aber da unsere Kinder im gleichen Alter waren, trafen wir uns öfter auf einen Kaffee. Irgendwann gingen wir auch gemeinsam zum Kinderturnen. Es war alles so weit in Ordnung. Ihr Sohn war mit eineinhalb Jahren etwas wild, aber ich dachte darüber kaum nach. War doch ok, fand ich.

Tatsächlich hatte der Kleine seine Kräfte nicht immer unter Kontrolle. Er schubbste und haute. Es wirkte nicht bösartig, sondern einfach übermütig. Auch, wenn es öfter meine Tochter traf und sie begann, ihn irgendwann zu meiden, hatte ich Verständnis für ihn.

Leider war ich da wohl die Einzige. Meine Nachbarin erzählte mir etwa ein Jahr später,  dass sie Freunde hat, die sich nicht mehr bei ihr melden. Wegen ihres Sohnes, da war sie sicher. Weil diese Leute keine Lust mehr hätten, auf die ständigen Prügeleien der Kinder, die umgeworfenen Gläser und dieses in deren Augen unerzogene Kind. Auch von der KiTa musste sie sich bereits schlimme Geschichten anhören: Ihr Sohn würde beißen, die ganze Gruppe durcheinander bringen und die Eltern würden sich bereits beschweren. Es folgten mehrere Gesprächs-Termine mit den Erziehern. Natürlich ohne Erfolg.

Er war nicht aggressiv oder frustriert. Auch nicht übermäßig aktiv oder total unkonzentriert. Leider kam es bei anderen Eltern aber nicht gut an, wenn einer mit einem Stock bewaffnet auf das Klettergerüst kloppt und nicht merkt, dass da auch Kinder drauf sind. Eigentlich war er in meinen Augen aber ein feiner Kerl. Er sprach recht früh und gut und ich redete gerne mit ihm. Als Mädchen-Mutter hatte ich Spaß daran, mir von ihm seine Polizei-Auto-Sammlung zeigen zu lassen. Ich war immer noch der Meinung, dass der Junge nicht irgendwie „unnormal“ war.

Das sagte ich meiner Nachbarin auch. „Alles nur eine Phase“, diese gern genommene Erklärung für alles. Aber sie sah immer nur die vielen Sonnenschein-Kinder um sich herum. Der Druck musste wirklich groß sein, wenn scheinbar alle Kinder lieb und brav sind – nur das eigene nicht.

Während wir darüber sprachen, pflückte meine Tochter Gänseblümchen. Und ihr Sohn, zu diesem Zeitpunkt fast drei, verschwand gerade hinter dem Gartentor. Alles Rufen half nichts, er hörte nicht und marschierte einfach auf die Straße. Es passierte nichts, zum Glück. Aber ich bekam mit, wie sehr der Stress meine Nachbarin mitgenommen hatte. Sie schimpfte fürchterlich mit ihm, packte ihre Sachen und ging.

Die Ermahnungen und ihre Strenge wurden immer heftiger. Sie wirkte selten gut gelaunt und war oft ungerecht zu ihrem Sohn. Wir waren nur Nachbarinnen, keine Freundinnen. Und deshalb meldete sie sich irgendwann auch nicht mehr bei mir. Und ich mich nicht bei ihr.

Laura Dieckmann
Als waschechte Hamburgerin lebe ich mit meiner Familie in der schönsten Stadt der Welt – Umzug ausgeschlossen! Bevor das Schicksal mich zu Echte Mamas gebracht hat, habe ich in verschiedenen Zeitschriften-Verlagen gearbeitet. Seit 2015 bin ich Mama einer wundervollen Tochter.

Alle Artikel